Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
vokalreichen Sprache verstanden, aber ihr Klang war so charakteristisch, dass er sich Gorian eingeprägt hatte und er ihn selbst dann sofort wiederzuerkennen vermochte, wenn grobschlächtige Orxanier-Kehlen sie in all ihrer Unbeholfenheit und Plumpheit hervorbrachten.
Nach allem, was man über Morygor wusste, war er ein abtrünniger Caladran, und die wenigen, die ihm begegnet und noch in der Lage waren, davon zu berichten, hatten dies bestätigt. Die Berichte darüber lagerten in den Archiven der Ordensburg, aber die jüngsten unter ihnen waren bereits ein Jahrhundert alt. Angeblich hatte sich Morygor seitdem auch in seinem Äußeren stark verändert und war zu einem Wesen von monströsem Aussehen geworden, eine Nebenwirkung seiner verderbten Magie. Aber es gab niemanden, der darüber zuverlässig hätte Näheres bezeugen können.
Außer vielleicht Meister Domrichs Geist, ging es Gorian durch den Sinn. Aber in den Gedankenbildern seiner Erinnerungen, die Gorian empfangen hatte, war nichts enthalten gewesen, was näheren Aufschluss darüber gegeben hätte. Eine schattenhafte Gestalt – mehr war vom Herrn des Frostreichs nie zu erkennen gewesen. Selbst in den Erinnerungen nicht, die jenen schrecklichen Moment betrafen, als Morygor höchstpersönlich das aus Ar-Don und Meister Domrich verschmolzene Wesen brutal verkleinert hatte.
Das Entsetzen bei seinem Anblick ist eine der stärksten Waffen des Bösen, fiel Gorian eines der Axiome des Ordens der Alten Kraft ein. Vielleicht war der Anblick Morygors selbst für Ar-Don zu entsetzlich gewesen, um die Erinnerung daran in jedem Detail zu bewahren …
Der Chor der orxanischen Untoten schwoll an. Ihr Singsang wirkte in seiner Grobschlächtigkeit wie eine groteske Parodie auf die Stimmen der Caladran, an die sich Gorian entsann. Morygor musste die Frostgötter wohl in seiner eigenen Art der Magie unterwiesen haben, nachdem er ihnen die Rückkehr durch das Weltentor gestattet hatte. So wäre zu erklären, dass Frogyrr diese Zauberei anwandte.
Eine andere Möglichkeit dafür wäre gewesen, dass Morygor selbst auf geistiger Ebene hier anwesend war, überlegte Gorian, und ihn fröstelte bei dem Gedanken. Dass Morygor genug Macht dazu hatte, daran konnte kein Zweifel bestehen. Und wenn tatsächlich so viel davon abhing, dass Gorian getötet wurde, war es sogar naheliegend, dass Morygor diese Angelegenheit nicht allein seinen Dienerkreaturen überließ …
Ist dies bereits der Moment, da wir uns gegenüberstehen?, fragte sich Gorian. Willst du den Augenblick, da unsere Schicksalslinien sich kreuzen, vorziehen, um diese Begegnung für dich entscheiden zu können?
Er konzentrierte die Alte Kraft. Seine Augen wurden vollkommen schwarz, als er zu erspüren versuchte, ob da irgendwo etwas war, das man mit der geistigen Anwesenheit des Herrn der Frostfeste in Verbindung bringen konnte.
Jeder noch so ungleiche Kampf lässt sich gewinnen, wenn man den richtigen Zeitpunkt wählt …
Auch das war ein Axiom der Ordensmeister, doch der Leitsatz erschien Gorian nun wie eine innere Mahnung. Er blickte zum Himmel, der dunkel und grau war und kein Sternenlicht hindurchließ und auch nicht das des Mondes, das offenbar für die Entfaltung der Kräfte, die in diesem Tempel schlummerten, eine so große Rolle spielte.
Frogyrr stand auf dem hinteren Tatzenpaar. Im flackernden Schein der ungezählten Fackeln, die diese Nacht mit ihrem kalten Licht erhellten, wirkte der achtbeinige Eisbär wie ein dämonischer Schatten seiner selbst. Gorian hatte keinerlei Zweifel daran, dass er den letzten Rest seiner Kraft aufbringen würde, um sein Ziel doch noch zu erreichen.
Einer von uns wird hier sein Ende finden, dachte Gorian. Um das zu erkennen, bedurfte es keiner magischen Berechnungen von sich überschneidenden Schicksalslinien oder einer Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten des Polyversums.
Frogyrr knurrte dumpf. Doch dieses Knurren hatte nicht dieselbe Kraft wie zuvor die extrem tiefen Laute des bärengestaltigen Gottes. Beliak hatte recht, er wird schwächer, dachte Gorian. Aber nicht schwach genug …
Das oberste Tatzenpaar hielt den Elfenbeinstab horizontal, die anderen Gliedmaßen waren zu den Seiten hin ausgestreckt. Ein bläulicher Blitz zuckte vom Schädelende des Stabes zum Schaft und dann wieder zurück, der Frostgott öffnete sein gewaltiges Maul, und Tausende von bläulich schimmernden fliegenden Käfern strömten aus diesem hervor. Ihre Größe war unterschiedlich, manche waren
Weitere Kostenlose Bücher