Gorian 2
Königstochter war starr auf einen imaginären Punkt konzentriert. Sie stieß Laute aus, die vielleicht unverständliche Worte waren, vielleicht auch nichts weiter
als ein letztes Aufstöhnen unter einem schier unermesslichen Schmerz.
Ein großköpfiger Zahlenmagier und ein Priester des Verborgenen Gottes standen neben dem Bett. Von dem Zahlenmagier hatte Gorian schon gehört, Aarad hatte ihn erwähnt. Er hieß Ptembros und war als Arzt tätig, denn er behauptete, mit der Hilfe der Zahlenmagie nicht nur marode Geschäfte von ihrer Misswirtschaft, sondern auch Kranke von ihrem Leiden befreien zu können. Die Packleute am Hafen von Gryphenklau erzählten sich, Ptembros sei durch den Einfluss der Königin an den Hof gelangt und genieße dort hohes Ansehen, auch wenn die Wirksamkeit seiner Heilmagie von nahezu allen Ärzten der Stadt angezweifelt wurde.
Der Mann mit dem übergroßen, ballonartigen und von zahllosen sich verzweigenden Adern überzogenen Kopf stand da, hob die dürren, langfingrigen Hände und murmelte eine Abfolge von Zahlen, die auf Gorian völlig willkürlich wirkte. Dass er dabei den heiligreichischen Dialekt von Baronea benutzte, ließ die Prozedur auf gryphländische Ohren vielleicht etwas geheimnisvoller wirken.
Der Priester wirkte einfach nur entsetzt. Er schien die Kranke bereits aufgegeben zu haben und es nicht mehr für lohnend zu erachten, die Hilfe des Verborgenen Gottes zu erflehen.
»Zur Seite! Lasst Heiler Aarad sein Werk tun!«, rief der König, während seine Gemahlin laut schluchzte.
»Sieh hin, was geschieht, Gorian«, raunte Thondaril seinem Schüler zu. »Schließlich willst du ja in allen fünf Häusern den Meistertitel erringen, also auch den der Heiler.«
»Ja, diesen Plan habe ich in der Tat noch nicht aufgegeben«, bestätigte Gorian, dann flüsterte er: »Spürt Ihr es auch, Meister Thondaril?«
»Was?«
Gorians Augen wurden schwarz, und er fühlte, dass da etwas Dunkles, abgrundtief Böses unmittelbar unter ihnen war. Im ersten Moment dachte er, es wäre wieder der Totenalb, aber da war eine Nuance, die nicht zu diesem Wesen passte, dafür aber zu jenem, das über das Meer gekommen sein musste. Es war dieses bedrückende Gefühl, von dem Sheera geglaubt hatte, es wäre eine Widerspiegelung des Schattenbringers.
Und dann sah er es plötzlich.
Es hatte Flügel und sah aus wie eine hässliche Kreuzung aus Fledermaus und Waldhyäne. Fast regungslos hockte die Kreatur auf der Brust der Königstochter, und Gorian glaubte ihr triumphierendes, meckerndes Gelächter zu hören.
Ein Schattenmahr, durchfuhr es ihn.
Den Erzählungen nach waren diese Wesen die Begleiter der Totenalben. Sie folgten ihnen wie Hunde und ernährten sich vom Seelenaas – dem, was die Totenalben verschmähten.
Außer Gorian schien niemand den Schattenmahr zu bemerken, denn im Gegensatz zu Totenalben waren sie meist unsichtbar. Weshalb aber Gorian das geflügelte Wesen zu sehen vermochte, darüber machte er sich zunächst keine Gedanken; die Legenden gaben auch dafür eine Vielzahl von Erklärungen.
Er sah, wie das Wesen sein hyänenartiges Maul weit aufriss und sich anschickte, die wolfsartigen Reißzähne in den Hals der Kranken zu schlagen.
Da stürzte Gorian nach vorn, zog Sternenklinge hervor und stieß den im Weg stehenden Priester zur Seite, einen Kraftschrei auf den Lippen.
Sternenklinge fuhr durch den Körper des Schattenmahrs und teilte ihn in Hüfthöhe in zwei blutige Hälften, aus denen, ebenso wie bei der Königstochter, schwarzes Blut quoll. Blitze zuckten aus dem Schwert und tanzten für einige Augenblicke über die beiden Hälften des Schattenmahrs, dessen meckerndes Gelächter sich in einen schrillen Laut wandelte, der so hochtönend war, dass menschliche Ohren ihn nicht zu hören vermochten. Die Hälfte mit dem Kopf und den Vorderpranken bewegte sich noch, der Unterleib mit den Flügeln hingegen lag regungslos auf der Brust der Königstochter und zerfiel zu einer zähflüssigen schwarzen Masse.
Im nächsten Moment sprang die obere Körperhälfte des Ungetüms auf Gorian zu, das Maul weit aufgerissen.
Gorian wollte sich mit einem Schwertstreich schützen, aber eine unsichtbare Kraft ließ den Hieb abprallen und zur Seite gleiten. Das Wesen traf ihn an der Schulter, an der er während seines Kampfes am Speerstein so schwer verwundet worden war, und er stürzte zu Boden, während der Schattenmahr zubiss.
Gorian riss seinen Dolch aus Sternenmetall hervor und ließ die Klinge
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