Gorian 2
Greife nicht gern flogen, weil die Luft für sie zu dünn wurde, wie Fentos Roon den anderen erklärte.
Und dann waren da auch noch die alten Feinde der Greifen, die man immer öfter als dunkle Schatten aus den finsteren
Felsspalten emporschweben sah. Aus der Ferne war nicht viel von ihnen zu erkennen, nur dass ihre Körper eine bizarre Mischung zwischen Mensch und Fledermaus waren. Auf ihren Lederschwingen glitten sie durch die schattigen Bereiche der Täler. Offenbar waren sie mit Speeren bewaffnet und mit im Wind flatternden dunklen Gewändern bekleidet.
»Sie sehen aus wie missgestaltete Menschenkinder mit fellbedeckten, spitzohrigen Köpfen und Fledermausflügeln auf den Rücken«, erklärte Fentos Roon. »Stehen sie aufrecht, reichen einem selbst die größten von ihnen kaum bis zur Hüfte. Dennoch sollte man sich vor ihnen in Acht nehmen. Vor allem, wenn sie in Schwärmen auftreten. Die Spitzen ihrer Speere sind aus Obsidian.«
»Und was hält sie davon ab, über eine einsame Greifengondel wie die unsere herzufallen?«, fragte Gorian.
»Vor allem ihre Abneigung gegen Licht und Feuer«, gab Centros Bals Zweiter Greifenreiter Auskunft. »Sie fürchten das Licht der Sonne ebenso wie das Feuer aus den Tiefen der Erde, denn ihr eigentliches Element ist die Dunkelheit der Felsschluchten, Erdspalten und Höhlen. Selbst die Helligkeit des Mondes hält sie manchmal schon davon ab, aus ihren Löchern zu kommen.«
»Wären sie dann nicht ideale Verbündete für Morygor?«, warf Torbas ein. »Wenn der Schattenbringer die Sonne zur Gänze verdeckt, dürfte das doch genau nach dem Geschmack dieser geflügelten Plagegeister sein, oder?«
»Das Eis würde auch ihren Lebensraum durchdringen«, gab Sheera zu bedenken. »Ihre Schluchten würden unter Gletschern begraben werden.«
Torbas zuckte mit den Schultern. »Dafür herrschte aber ewige Nacht, sie bräuchten nie wieder das Licht des Tages
zu fürchten und sich nicht mehr in ihren Erdspalten zu verkriechen.«
Als sie die Gebirgszüge überquerten, wurde es auch in der Gondel kalt. Die Gipfelregionen der Berge waren mit einer dünnen Schicht aus Schnee und Eis bedeckt, die im Licht der untergehenden Sonne ein einmaliges Farbenspiel bot.
Dann erreichten sie die Nordosthänge des mittelgryphländischen Bergrückens und sahen Felsenburg.
Es handelte sich um einen einzelnen säulenartig emporragenden und nahezu zylinderförmigen Felsen. An seinem Gipfel befand sich ein Plateau, das von zinnenbewehrten Mauern umgrenzt wurde, und je mehr sie sich dem Säulenfelsen näherten, desto deutlicher erkannten sie, dass mindestens das obere Drittel des Massivs auf ähnliche Weise bewohnt war wie die Felsen von Gryphenklau: Überall waren die zum Teil mit Toren verschlossenen Zugänge von Wohnhöhlen zu sehen, größer als die Stadttore von Segantia oder Toque, und es gab auch Einflugkavernen für ankommende Greifen, wie Fentos Roon erklärte. Vor den Höhleneingängen befanden sich mitunter kleine Vorsprünge und offenbar künstlich angelegte Plateaus, die denen in Gryphenklau ähnelten.
Das Gelände um die Felsensäule herum war flach und öde. Eine schwarze Wüste, offenbar ebenfalls geschaffen durch den verheerenden Brand, den die Feuerdämonen der Legende nach verursacht hatten. Allerdings gab es fast keinen Staub. Anders als in der Aschewüste hatte ihn wohl der beständig wehende Wind abgetragen und nichts als kahles schwarzes Gestein zurückgelassen.
Am westlichen Horizont erstreckte sich ein Gebirgsausläufer, hinter dem die Sonne mit ihrem ewigen schattenhaften
Begleiter bereits zu zwei Dritteln verschwunden war. Da schossen bei der Burg auf einmal Flammen aus einem Dutzend in den Himmel ragender Steinsäulen.
»Ich nehme an, das soll die Fledermenschen auf Distanz halten«, sagte Gorian und sah Fentos Roon dabei an.
Dieser nickte. »Es soll sie daran erinnern, dass es ihnen schlecht bekommt, wenn sie die Autorität des jeweiligen Königs von Gryphland in Zweifel ziehen.«
»Und? Erweisen sie sich als gute Untertanen, seit so viele ihrer Vorfahren von den Feuerdämonen vernichtet wurden?«, fragte Torbas leicht spöttisch. »Oder ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie vielleicht den Aufstand wagen?«
»Wer weiß«, murmelte Fentos Roon.
Der Greif flog mitsamt seiner Gondel durch das Tor einer Einflugkaverne. Sie gelangten in eine Höhle, in der so manche Kathedrale Platz gefunden hätte. Dutzende von Greifen waren dort untergebracht. Manche stießen schrille
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