Gorian 2
seiner Brust übersetzte seine Worte, während er dem Verwalter das Dokument des Königs überreichte. »Aus dem Norden droht eine furchtbare Gefahr, und wenn wir nicht schnell handeln, wird es keine Rettung mehr geben.«
Oras Ban nahm das Dokument, brach das Siegel und las dann aufmerksam, wobei sich eine tiefe Furche auf seiner Stirn bildete. Gorian fiel auf, dass er trotz der unverkennbaren Zeichen des Alters keineswegs gebrechlich wirkte. Seine Bewegungen waren die eines Jahrzehnte jüngeren Mannes, während sein Gesicht das eines hochbetagten Greises war, der die Grenze der menschlichen Lebensspanne bereits erreicht hatte.
»Ich will nicht behaupten, dass mir gefällt, was hier steht«, erklärte er und gab Thondaril das Dokument zurück. »Ihr seid ein bekannter Mann, und wenn der König Euch vertraut, so habe ich keinen Anlass, dies nicht zu tun. Und dennoch sträubt sich alles in mir, einem Fremden Zugriff auf jene wertvollen Dokumente zu gewähren, die der kostbarste Schatz unseres Reiches sind.«
In diesem Augenblick erfüllte ein schrilles Geschrei die Luft.
Die Sonne war soeben gänzlich versunken, doch im fahlen Mondlicht war der dunkle Umriss eines Greifen zu sehen,
der über die schneebedeckten Gipfel flog und es offenbar sehr eilig hatte.
»Ein Greif ohne Reiter?«, wunderte sich Torbas. »Muss eines der letzten wildlebenden Exemplare sein.«
Auf einmal schossen aus einem der dunklen Schlünde zwischen den Felsmassiven erst Dutzende, dann Hunderte von Fledermenschen, dabei sehr hohe Töne ausstoßend, die sogar noch bis zu der kleinen Gruppe auf dem Turm Felsenburgs drangen.
Im nächsten Moment trafen mehrere Speere mit Obsidian-Spitzen den löwenartigen Körper des Greifen. Das Tier hackte mit seinem gewaltigen Schnabel nach den Angreifern, flatterte hastig mit den Flügeln, schlug mit allen vier Tatzen wie von Sinnen um sich und taumelte durch die Luft. Seine spitzen Krallen erwischten ein paar der Fledermenschen, die tödlich verwundet in die Tiefe trudelten.
Dann aber stürzte sich eine ganze Traube von Fledermenschen ohne Rücksicht auf eigene Verluste auf den Wildgreifen, und weitere Speere stießen in den Leib der riesigen Kreatur oder rissen die Flügel des Greifen auf. Mit durchdringendem, von den Berghängen widerhallendem Gebrüll stürzte der Greif mitsamt seinen Angreifern in eine der vielen Schluchten, wo sein Schrei verklang.
»Sie sind zahlreicher geworden und trauen sich immer häufiger aus ihren Erdspalten«, sagte Oras Ban in düsterem Tonfall. »Früher hätten sie sich so kurz nach Sonnenuntergang und bei derart hellem Mondschein nicht hervorgewagt. Inzwischen zeigen sie sogar kaum noch Angst vor dem Licht.«
»Worauf führt Ihr diese Veränderung zurück?«, fragte Gorian.
Oras Ban horchte auf, denn Gorian hatte Gryphländisch
gesprochen, dann antwortete er: »Weil sie immer zahlreicher werden, ist ihre Nahrung knapp geworden, das wird es sein. Eines Tages werden unsere Flammensäulen sie nicht mehr daran hindern, auch Felsenburg heimzusuchen.«
Da geschah es – eine Gedankenbotschaft erreichte Gorian, auch wenn sie sehr schwach war: »Ar-Don … braucht Hilfe … gefangen …!«
»Wo bist du?«, fragte Gorian in Gedanken.
»Dunkel … alles dunkel … Ar-Don umgibt Finsternis … Ah, die Qual …«
»Ist Eurem jungen Begleiter nicht gut?«
Gorian blickte auf und sah das Stirnrunzeln auf Oras Bans Gesicht.
Seine Augen waren nicht schwarz geworden, das hätte Gorian gemerkt. Er hätte die entsprechende magische Anspannung gespürt.
»Er sieht ganz blass aus«, fuhr Oras Ban fort, dann wandte er sich an Thondaril: »Nun, ich nehme an, dass sich auch die anderen Mitglieder Eurer Gruppe zunächst einmal von den Reisestrapazen erholen sollten.«
»Eine Reise in einer komfortablen Greifengondel sehe ich keineswegs als besondere Strapaze an«, lehnte der Ordensmeister das Angebot ab. »Wenn nichts dagegen spricht, soll man uns gleich zum Aufbewahrungsort der Caladran-Werke führen, damit wir daraus eine Schrift aussuchen, die sich als Versöhnungsgeschenk eignet. Das Dokument des Königs gibt mir das Recht dazu.«
Die Augen des Königlichen Verwalters wurden schmal. Es war unverkennbar, dass ihm Thondarils befehlender Tonfall nicht gefiel.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren, ehrenwerter Oras Ban«, drängte Thondaril – und Gorian konnte sich nicht erinnern,
den zweifachen Ordensmeister schon einmal so ungeduldig erlebt zu haben. »Die Lage ist verzweifelt.
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