Gorian 2
weit und breit nichts zu sehen, das uns von der weißen Seite her angreifen könnte«, gab Centros Bal zurück; damit meinte er wohl den bereits vom Frost eroberten Bereich.
»Genau das beunruhigt mich«, erklärte Gorian.
Dass der Maskierte trotz des eisigen Winds nicht den Balkon verließ und sich nicht zurück in die Gondel begab, bewies, dass Gorian mit seiner Ahnung nicht allein dastand.
Der Maskierte zog sogar sein Schwert, und die Klinge verwandelte sich in einen Flammenstrahl, der zum Himmel emporschoss und sich dabei auffächerte.
Für einen Moment wurde eine einzelne Eiskrähe sichtbar. Sie glühte kurz auf und verbrannte zu Asche, noch ehe sie einen Schrei ausstoßen konnte.
»Die war ja nahezu unsichtbar!«, stieß der Nordfahrer erschrocken hervor, während der Greif wild mit den Flügeln schlug, sodass die Gondel ins Wanken geriet und sich der Maskierte mit einer Hand am Geländer des Balkons festhalte musste.
»Das war nur ein Spion«, erklärte Gorian. »Morygors Auge. Ich fürchte, wir werden bald auch seine Hand zu spüren bekommen.«
Er erhob sich wieder, gesichert von der Seilschlange, die er mit entsprechenden Befehlen dirigierte, und packte sein Schwert Sternenklinge mit beiden Händen. Dass ein Angriff bevorstand, war für ihn keine Frage mehr.
Die Gewissheit eines Schwertmeisters erfüllte ihn. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein bedeutet bereits den halben Sieg, hieß es in den Axiomen. Er sammelte die Alte Kraft in sich und versuchte mit ihr eins zu werden.
Wieder erreichten ihn die Gedankenstimmen eines Eiskrähenschwarms. Es mussten Tausende sein, und Morygor selbst hatte die Macht über jedes einzelne dieser Geschöpfe, und zwar in einer so vollkommenen Weise, wie es selbst für den Herrn der Frostfeste ungewöhnlich war, zumal dies die alleräußerste Peripherie seines Reiches war. Es sprengte jeden Rahmen, überstieg jegliche Vorstellungskraft, welch
immense magischen Energien dazu notwendig waren, dass er so weit vom Zentrum seiner Herrschaft entfernt einen dermaßen starken Einfluss ausübte.
Gorian schauderte, als er daran dachte, welch ein machtvoller Geist sein Gegner war, und ihm wurde in diesem Moment deutlicher als je zuvor, wie verschwindend gering dagegen seine eigenen Kräfte waren. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein – das allein eröffnete die Möglichkeit, einer so überlegenen Macht nicht ganz ohne Aussicht auf Erfolg gegenüberzutreten.
Die Gedankenstimmen des Vogelschwarms schrillten so laut in seinem Kopf, dass er sich dagegen abschirmen musste, und genau dies schien Morygors Kalkül zu entsprechen. Die Fähigkeit der Voraussicht eines bevorstehenden Angriffs brauchte nur für einen Augenblick auszusetzen, ein Moment der Verwirrung reichte dazu schon aus oder ein Verlust der geistigen Verbindung zum Gegner. Und Letzteres trat ein, als Gorian die schmerzende, völlig sinnlose Gedankenflut der Eiskrähen abwehrte.
In diesem Augenblick brach das Eis unter ihnen auf, und ein Leviathan stieg daraus hervor. Offenbar war er mit dem Gletscher hergespült worden, zusammen mit dem Geröll und allem, was das Eis auf seinem Weg mit sich nahm.
Der Leviathan stieg empor wie eine angreifende melagosische Kobra, wie Gorian sie einst bei einem Schlangenbeschwörer in Thisia gesehen hatte. Das kopflose Ende und sein formloses, noch geschlossenes Maul waren auf den heranfliegenden Greifen samt Gondel gerichtet.
Der Greif stieß einen schrillen Schrei aus, Centros Bal bremste den Flug stark ab und ließ das Tier zur Seite ausweichen.
Im gleichen Moment öffnete der Leviathan das Maul.
Auf den ersten Blick wirkte das, was daraus hervorkam, wie eine gespaltene weiße Schlangenzunge, in Wahrheit war es ein so dicht gedrängt fliegender Schwarm Eiskrähen, dass es kaum möglich war, einzelne Tiere zu unterscheiden. Nur Magie erlaubte es den Vögeln, in diesem Gedränge überhaupt zu fliegen.
Die Flügel rauschten wie eine Meeresbrandung und schlugen dabei heftig gegeneinander.
Die ersten Angreifer wehrte Gorian mit Sternenklinge ab, und der Maskierte richtete sein Flammenschwert auf den ausströmenden Schwarm. Grell zuckte der Flammenstrahl durch die Nacht, versengte den Kopf des Leviathans und ließ zugleich unzählige Eiskrähen zu Asche verglühen, die mit dem Atem des Leviathans in die Nacht geblasen wurden.
13
Folgenreiche Verwundungen
Der Greif schwenkte auf den Schlangenzahn zu, während der Leviathan zurückzuckte, krachend zu Boden ging und das
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