Gorian 2
Gerüchte. Selbst Meister Thondaril, der über die Kunst des Handlichtlesens Verbindungen zu anderen Ordensmeistern in nahezu allen Ländern von Ost-Erdenrund unterhielt, die noch nicht von Morygors Horden erobert waren, war hinsichtlich des Geschehens bei den Caladran so ahnungslos wie alle anderen.
Allerdings war es allenfalls eine Frage der Zeit, bis sich das Frostreich auch auf die Inseln ausdehnen und sie unter seinem Eispanzer begraben würde, wie es mit dem Großteil von Ost-Erdenrund bereits geschehen war.
Sheera platzierte zahlreiche Heilsteine auf den Wunden des Greifen, der sich auf die Seite gelegt hatte. Damit die Steine auf den furchtbaren Verletzungen, die ihm der Eiskrähenschwarm zugefügt hatte, hafteten, musste Gorian sie
mit einem entsprechenden Zauber besprechen. Das war einfache, grundlegende Magie und gehörte nicht zu dem Spezialwissen, das in den fünf Häusern des Ordens gelehrt wurde.
Einige der Wunden schlossen sich bereits, verschorften und bildeten Krusten.
Der Greif lag mit ausgestrecktem Hals da und hielt den Schnabel in das Uferwasser des Sees, sodass er jederzeit, wenn ihm danach war, trinken konnte. Seine Augen zeigten einen matten Glanz, und auch wenn Gorians Wissen hinsichtlich dieser Tiere beschränkt war, spürte er doch deutlich, dass nicht mehr viel Lebenskraft in ihm steckte.
»Wir werden uns vielleicht an den Gedanken gewöhnen müssen, unseren Weg ohne ihn fortzusetzen«, sagte Sheera leise, als fürchtete sie, der Greif könnte ihre Worte verstehen.
»Eine Heilerin darf nicht an ihren Fähigkeiten zweifeln«, entgegnete Gorian.
»Ich bin erschöpft, Gorian. Schon Torbas’ Schulterwunde zu versorgen hat viel meiner Heilkraft aufgezehrt. Und für den Greifen kam, so fürchte ich, meine Hilfe bereits zu spät.« Sie seufzte und sprach nicht laut weiter, sondern benutzte ihre Gedankenstimme. »Vielleicht aber lässt sich der Namenlose Renegat dazu herab, uns mit seiner Caladran-Magie zu unterstützen.«
»Bisher sieht er einfach nur in aller Seelenruhe zu, wie das Reittier, das uns von hier fortbringen könnte, zu krepieren droht« , gab Gorian ergrimmt zurück. » Dieser Kerl wird mir immer unheimlicher, wenn ich ehrlich bin.«
»Genau wie sein seltsamer Begleiter, dieser Maskierte.«
»Ich frage mich, woher der Namenlose Renegat so gut über Morygor Bescheid weiß. Als König Song Mol mit seiner Hilfe die
Feuerdämonen besiegte, war Morygor nicht einmal geboren. Die beiden sind sich niemals begegnet, und doch muss es eine Verbindung zwischen ihnen geben.«
»Ich glaube allerdings nicht, dass Morygor ihn beherrscht und zum Verräter gemacht hat« , wandte Sheera ein. » Dazu ist die Magie des Namenlosen zu stark. Außerdem hätte er in diesem Fall genug Gelegenheit gehabt, uns dem Feind auszuliefern oder zu töten.«
Gorian warf einen Blick zu dem Namenlosen hinüber, der sich etwas abseits auf den Boden niedergelassen hatte. Er hatte die Beine untergeschlagen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen geschlossen und wirkte, als würde er sich stark konzentrieren.
» Er hält uns nicht für wert, uns in seine wahren Pläne einzubeziehen« , stellte Gorian fest und fragte sich zugleich, ob der Namenlose seinen Gedankenaustausch mit Sheera mitbekam.
Gorian machte sich auch Sorgen um Ar-Don. Der war zwar nicht von den Eiskrähen verletzt worden, aber er wirkte stark verändert. Seit ihrer unfreiwilligen Landung in den westreichischen Bergen hockte er, zur steinernen Statue erstarrt, in der Greifengondel. Auf Gorians Gedanken reagierte er abwehrend, und Gorian erschienen die Gedanken des Gargoyles, die er durchaus empfing, vollkommen wirr.
Er fragte Meister Thondaril um Rat. »Was könnte mit ihm los sein? Selbst als er mich umbringen wollte, habe ich seine Gedanken besser verstanden als jetzt.«
»Wieder einmal erweist sich die unglaubliche Stärke von Morygors Aura«, sagte der zweifache Ordensmeister. »Niemand kann vorhersagen, wie sie auf den Einzelnen wirkt. Ar-Don hat vielleicht keine äußerlich sichtbaren Verletzungen
davongetragen, aber auf seinen Geist muss das nicht zutreffen.«
»Ich verstehe«, sagte Gorian. »Ihr wollt mich erneut vor ihm warnen.«
»Nein, nur zur Vorsicht mahnen. Vielleicht erholt er sich und ist in Kürze schon wieder ganz der Alte.«
Der Maskierte kehrte zurück und brachte ein paar Kräuter mit, die in dieser kargen Landschaft vereinzelt wuchsen. Er ging zu dem Namenlosen Renegaten, der bis dahin für niemanden
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