Gorian 3
Ersten Meisters. Dass dieser Satz für jedes Leben gilt, ist nichts Neues und jedem Menschen bewusst. Dass er auch für die Existenz des Heiligen Reiches und des Ordens gilt, mussten wir schmerzlich erfahren. Aber er gilt auch für unseren Feind.«
Er hielt inne. Sein von harten Linien durchzogenes Gesicht zeigte auch in diesem Augenblick kaum eine Regung.
»Ein Hochmeister Thondaril wird niemandem etwas versprechen«, hob er wieder an, »aber von allen ein Höchstmaß an Anstrengung und Opferbereitschaft fordern. All jenen, die resigniert sagen, dass wir vielleicht nur Zeit schinden, aber keinerlei Aussicht haben, Morygor zu bezwingen, kann ich nur entgegenhalten, dass Zeit die entscheidende Größe in diesem Kampf sein könnte. Jeder Tag, den wir gewinnen, kann Morygors Untergang bedeuten, weil uns diese wenigen
Stunden vielleicht doch noch in die Lage versetzen, alle Kräfte so gebündelt gegen ihn einzusetzen, dass seine Herrschaft ihr Ende findet, bevor die Welt erfroren ist. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
»Wie soll ich jemandem trauen, dessen Worte ich zwar höre, aber dessen Gedanken ich nicht empfangen kann, weil ein magisches Feld dies verhindert?«, meldete sich wieder Meister Ebeldin zu Wort.
»Alles Magische hat uns in letzten Zeit allzu oft getrogen«, sagte Meister Thondaril daraufhin. »Die Sicherheit, die Ihr erwartet, existiert in Wahrheit nicht, und auch die Magie kann sie nicht geben. Ganz im Gegenteil.«
»Dennoch. Ich wähle keinen Hochmeister, der mir nicht die Möglichkeit gibt, die Kraft seiner Gedanken mit magischen Sinnen zu erspüren. Wer weiß, vielleicht sind Eure Gedanken sogar äußerst schwach. Vielleicht sind sie einfach nicht eindringlich und zwingend genug. Man warnt uns vor Morygors Aura und vor Einflüssen von außen, aber vielleicht ist der Feind längst hier unter uns, und wir erkennen ihn nur nicht, weil uns durch dieses blaue Licht die Möglichkeit dazu genommen wird. Ich sage: Kein Hochmeister ohne magische Gedankenprüfung!«
Meister Thondarils Mund wurde schmallippig. »Wenn Ihr eine solche Prüfung an mir vornehmen würdet, garantiere ich Euch, dass Ihr nicht einmal mehr Eure Notdurft verrichten könntet, ohne mich dafür um Erlaubnis zu bitten«, zischte der zweifache Ordensmeister wütend. »Also seid froh, dass Euer Geist in diesem Moment nicht beeinflusst werden kann und Euch niemand daran hindert, aus freiem Willen Unsinn zu reden und für einen anderen Kandidaten zu stimmen.«
Hier und dort hörte man verhaltenes Gelächter. Meister Ebeldin murmelte etwas vor sich.
»Habe ich gerade Eure Bewerbung als Gegenkandidat vernommen? «, fragte Thondaril mit beißendem Spott.
»Nein, das habt Ihr nicht«, erwiderte der Seher kleinlaut.
Da ergriff Meister Morgun wieder das Wort. »Sollte jemand unter den hier Anwesenden einen weiteren Kandidaten für das Amt des Hochmeisters vorschlagen mögen, so soll er dies nun tun«, forderte der alte Magiemeister.
Doch es gab keinen Gegenkandidaten. Niemand hatte den Mut, diesen Posten in so aussichtsloser Lage zu übernehmen.
»So werden wir durch Heben der Hand abstimmen. Ich frage also die hier anwesenden Meister des Ordens der Alten Kraft, ob sie Thondaril, Meister in den Häusern der Magie und des Schwertes, zu ihrem Hochmeister erheben wollen.«
Die Mehrheit war überwältigend groß. Meister Ebeldin gehörte zu den Wenigen, die nicht für Thondaril stimmten.
»Ehrt den neuen Hochmeister!«, verlangte Morgun der alten Formel folgend. »Ehrt Hochmeister Thondaril durch den Moment der Versenkung!«
»Du weißt, was du zu tun hast?«, raunte Meister Shabran Gorian zu.
»Gewiss.«
»Ich meine ja nur, schließlich bist du ja noch nicht lange genug Meister, um das schon mal erlebt zu haben.«
»Ich weiß trotzdem Bescheid.«
Die anwesenden Meister schlossen die Augen und senkten die Köpfe. Es war vollkommen still. Der Moment der Versenkung war eine Geste der Ehrerbietung. Der Geist wurde dabei vollkommen entleert, und alle magischen Kräfte ruhten, alle Sinne waren für Augenblicke nicht mehr präsent. In diesem Zustand gedachte man desjenigen, dem die Ehre zuteilwerden sollte. Bei der Wahl eines Hochmeisters entsprach dieses Ritual nicht nur der Tradition, sondern war sogar
in den Axiomen des Ersten Meisters zwingend vorgeschrieben.
Gorian hatte ein eigenartiges, unangenehmes Gefühl, als er die Augen schloss. Es war vergleichbar mit den Empfindungen, die ein Schwertmeister mitten in der Schlacht hatte, kurz
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