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Gorki Park

Gorki Park

Titel: Gorki Park Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz-Smith
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Endstation einer Buslinie hinaus, noch immer innerhalb der erweiterten Stadtgrenzen, aber in einer gänzlich anderen Welt aus kleinen Häusern und Hütten mit windschiefen Staketenzäunen und Hühnern, Gänsen und Ziegen, langsam durch tiefe Fahrspuren zu einem alleinstehenden Holzhaus mit abgeknickten Sonnenblumenstengeln im Vorgarten, zwei fast blinden Fenstern mit schmutzigen Gardinen, einem geschnitzten Giebel, von dem Farbe abblätterte, einem Außenabort und einem Wellblechschuppen.
    Arkadi ließ Irina aussteigen und nahm die beiden Säcke und die Hutschachtel vom Rücksitz mit. An der Haustür zog er drei Schlüsselringe aus dem bisher versiegelten Sack: die Schlüsselringe aus dem aus dem Fluss gefischten Lederbeutel. An jedem Ring hing der gleiche Hausschlüssel.
    »Eigentlich logisch, nicht wahr?« fragte er Irina.
    Der Schlüssel passte. Arkadi stieß die klemmende Tür mit dem Ellbogen auf. Aus dem Hausinneren kam ihnen ein Schwall modriger, feuchter Luft entgegen. Bevor er über die Schwelle trat, zog er Gummihandschuhe an und betätigte erst dann den Lichtschalter. Über dem runden Tisch in der Mitte des einzelnen Raumes brannte eine nackte Glühbirne. Das Haus roch ungelüftet und war eiskalt, als habe es die Winterkälte gespeichert. Irina stand zitternd in der Nähe der Tür, die Arkadi jetzt hinter ihr schloss.
    Die vier Fenster des einzigen Raumes waren von innen verriegelt und von außen durch Fensterläden gesichert. In zwei Schlafkojen lagen Roßhaardecken. Um den Tisch herum standen drei verschiedene Stühle. Der Kohleherd war längst erkaltet; im offenen Kühlschrank verschimmelten Vorräte. Auf einem Wandregal standen zahlreiche Farbdosen, ein großes Glas mit verschiedenen Pinseln, eine Lacksprühdose, ein Ledertampon und mehrere Tüten. Arkadi öffnete einen Kleiderschrank, in dem zwei Herrenanzüge - einer mittelgroß, der andere groß - und drei billige Kleider Größe 36 hingen.
    Darunter lagen durcheinandergeworfene Herren- und Damenschuhe.
    »Ja, ich weiß.« Arkadi erriet, was Irina dachte. »Wie in einem Grab, nicht wahr? So ist das immer.«
    An einer Wand standen drei altmodische Seekisten. Arkadi schloss sie mit verschiedenen Schlüsseln von den Schlüsselringen auf. Die erste enthielt Unterwäsche, Socken, Bibeln und religiöse Schriften; in der zweiten fand er Unterwäsche, ein kleines Glas Goldstaub, Kondome, einen alten Nagant-Revolver und Patronen; in der dritten lagen Damenunterwäsche, Modeschmuck, ein ausländisches Parfüm, ein Maniküre-Set, Haarklammern, eine abgestoßene Porzellanpuppe und mehrere Fotos, die Valeria Dawidowa mit Kostja Borodin beziehungsweise mit einem vollbärtigen älteren Mann zeigten.
    »Ihr Vater, stimmt’s?« Er hielt Irina das Foto hin. Als sie sich nicht dazu äußerte, klappte er die Deckel zu. »Kostja muss die Nachbarn ganz schön eingeschüchtert haben. Wenn man sich vorstellt, dass sie sich noch nicht getraut haben, hier einzubrechen … Muss ich wirklich weitermachen, Irina? Willst du mir nicht sagen, was sie hier für Osborne gemacht haben?«
    »Das weißt du bereits«, flüsterte sie.
    »Es sind nur Vermutungen. Ich brauche eine Zeugenaussage. Irgend jemand muss es mir erzählen.«
    »Das kann ich nicht!«
    »Aber du wirst es noch.« Arkadi stellte die Hutschachtel und die beiden Plastiksäcke auf den Tisch.
    »Wir können uns gegenseitig helfen. Ich will wissen, was Valeria und Borodin hier für Osborne gemacht haben, und du willst wissen, wo Valeria jetzt ist. Bald werden alle Fragen beantwortet sein.«
    Er rückte einen der drei Stühle vom Tisch weg. Im gelblichen Licht der nackten Glühbirne wirkte Irina blass und hohlwangig. Arkadi sah sich mit ihren Augen: ein hagerer Mann mit wirrem schwarzen Haar und fiebrig scharfen Zügen, der sich über eine rosa Schachtel beugte. Ein wahrer Don Quichotte! Aber er konnte Irina vor Jamskoi und Osborne retten - und sogar vor ihr selbst, wenn seine Nerven ihn nicht im Stich ließen.
    »So!« Arkadi klatschte in die Hände. »Wir befinden uns in der Abenddämmerung im Gorki-Park. Es schneit. Die hübsche Pelzsortiererin Valeria, der sibirische Bandit Kostja und der junge Amerikaner Kirwill sind mit dem Pelzhändler Osborne beim Schlittschuhlaufen, als sie eine Pause machen, um auf einer Lichtung einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen. Hier stehen sie also. Kostja … « Er zeigte auf den ersten Stuhl. »Kirwill … « Das war der zweite Stuhl. »Valeria … « Er berührte die Hutschachtel. »Du

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