Gorki Park
fuhr sie fort. »Das kostet Sie nur einen Tag Ihres Lebens. Aber sobald an die Tür geklopft wird, liefern Sie mich aus.«
Arkadi fragte sie nicht, warum sie dann nicht lieber gehe, denn er fürchtete, sie könnte es tun.
»Wie können Sie über unseren Tod ermitteln, wenn Sie nichts über unser Leben wissen?« erkundigte Irina sich verächtlich. »Oh, Sie lesen Zeitschriftenartikel über Sibirien, und die Miliz in Irkutsk hat Sie über Kostja Borodin informiert. Wie, so fragen Sie mich, konnte ein jüdisches Mädchen wie Valeria sich mit einem Kriminellen wie Kostja einlassen? Wie konnte ein gerissener Kerl wie Kostja auf Osbornes Versprechen reinfallen? Glauben Sie etwa, dass ich nicht ebenso darauf reinfallen würde?«
»Was war mit Valeria?«
»Die Dawidows haben in Minsk gelebt. Die dortigen Blockausschüsse mussten eine bestimmte Anzahl von jüdischen Intellektuellem festnehmen. So sind der Rabbi und seine Familie abtransportiert worden, um Sibirier zu werden.«
»Und Kostja?«
»Er ist sibirischer als jeder andere von uns. Sein Urgroßvater ist unter dem Zaren wegen Mordes nach Sibirien verbannt worden. Seit dieser Zeit haben die Borodins mit den Rentierhirten Handel getrieben, heimlich Gold geschürft und sich für Geologen als Führer verdingt. Kostja hat gejagt.«
»Was hat er gejagt?«
»Zobel, Füchse.«
»Wie konnte er als Bandit Zobelfelle zu Auktionen bringen?«
»Er ist nach Irkutsk gekommen und hat sie von anderen verkaufen lassen. Jedes Fell war hundert Rubel wert, aber er hat nur neunzig verlangt. Darum haben alle dichtgehalten.«
»Es gibt jetzt Zobelfarmen - wozu braucht man dann noch Jäger?«
»Die Zobelfarmen sind typische Kollektive - katastrophal organisiert. Zobel brauchen Frischfleisch. Allein die Verteilung ist sehr aufwendig, und wenn die Versorgung zusammenbricht, müssen die Betriebe ihr Futter beim nächsten Fleischer kaufen. Deshalb kostet ein gezüchteter Zobel den Staat doppelt soviel wie ein erlegter.«
»Dann muss es viele Pelztierjäger geben.«
»Wissen Sie, wo Sie den Zobel aus fünfzig Meter Entfernung treffen müssen? Ins Auge - sonst ist das Fell minderwertig. Das können nur wenige Jäger und keiner so gut wie Kostja!«
Ihr Abendessen bestand aus Bratwürstchen, Brot und Tee.
Arkadi hatte das Gefühl, auf der Jagd zu sein: Er durfte keine vorschnelle Bewegung machen und musste gleichzeitig Fragen wie Köder auslegen, um scheues Wild anzulocken.
Die Sonne brach sich in Irinas Augen. Die Nacht machte sie blasser, ihre Augen dunkler.
»Mir ist nur eines nicht klar«, meinte Arkadi nachdenklich. »Osborne hätte Betstühle, Schreine und Ikonen aus zwanzig verschiedenen Moskauer Quellen beziehen können. Wie Sie selbst gesagt haben, hat Golodkin bereits einen Schrein für ihn gehabt. Warum hat er dann riskiert, sich mit zwei verzweifelten jungen Leuten einzulassen, die auf der Flucht vor der Miliz waren? Warum hat er sich die Mühe gemacht, ihnen etwas von einer Fluchtmöglichkeit vorzuschwindeln? Was hatten Kostja und Valeria ihm Außergewöhnliches zu bieten?«
»Warum fragen Sie das mich?« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie behaupten, ein amerikanischer Student namens Kirwill sei illegal in die Sowjetunion gebracht worden. Wozu hätte Osborne das riskieren sollen? Das ist doch unsinnig!«
»Nein, es war notwendig. Kostja wollte einen greifbaren Beweis dafür sehen, dass Osborne Leute herein- und hinausschmuggeln kann. James Kirwill war dieser Beweis. Kirwill eignete sich außerdem am besten, weil er Amerikaner war. Kostja und Valeria haben Osborne nicht zugetraut, dass er einen Landsmann verraten würde.«
»Wäre Kirwill denn hergekommen, wenn er nicht gewusst hätte, dass sein Rückweg gesichert war?«
»Amerikaner trauen sich alles zu«, stellte Arkadi fest. »Auch Osborne traut sich alles zu. Hat er mit Valeria geschlafen?«
»Sie gehört nicht zu den Mädchen, die … «
»Sie war sehr hübsch. Osborne behauptet, Russinnen seien hässlich, aber Valeria muss ihm aufgefallen sein. Er ist schon im Pelzzentrum Irkutsk auf sie aufmerksam geworden. Wie hat Kostja darauf reagiert? Hat er sich vorgenommen, diesen reichen Amerikaner mit Valerias Hilfe reinzulegen?«
»Das klingt ja, als hätten sie … «
»Haben sie Osborne damit geködert? Hat Kostja sie dazu angestiftet und gesagt: >Los, los, ‘ne kleine Bumserei schadet weder dir noch mir, und der Tourist muss am Ende dafür bluten!< Ist das der Grund gewesen? Haben drei Menschen sterben müssen,
Weitere Kostenlose Bücher