Gotland: Kriminalroman (German Edition)
hier sicher? Die Insel war keine gute Zuflucht. Möglicherweise würde man ihn hier nicht finden, aber überleben konnte er so auch nicht. Es war auch kein Ort für eine Atempause. Seine Gedanken setzten ihm hier nur noch stärker zu, und im Dunkeln grabschten widerliche Ausgeburten seiner Phantasie nach ihm.
Er verließ den ruhigen Platz zwischen den grauen Gebäuden aus Kalkstein und Mörtel und ging zu der Stelle, von der aus man den neuen schwarz-weißen Leuchtturm am anderen Ende der Insel sehen konnte. Als er dort stand, spürte er Elin ganz nah an seiner Seite, und in der Ferne sah er Stefania fünf Meter vor den Eltern langsam näher kommen. Er sah die Abenteuer , die ekligen Ameisen, die Vogelgerippe, das Meer und die Kalksteingrotte, und er sah, dass alle am Leben waren. Stefania lebte, seine Mutter lebte, sein Vater lebte. Während der Segeltörns im Sommer lebten sie alle so, wie sie hätten leben können, und er konnte überhaupt nicht verstehen, warum das sonst nicht möglich gewesen war. Er wollte sich umdrehen und Elin berühren, er wünschte sich jemanden an seiner Seite, aber er begriff, dass dort niemand war und dass nie wieder jemand dort sein würde. Er war so allein, wie es ein Mensch nur sein konnte. Hinter der Insel lag der Horizont. Die Welt war hier zu Ende, die Grenzen des Möglichen waren klar abgesteckt, und er war vollkommen allein. Nun waren auch die sommerlichen Erinnerungen verschwunden. Stattdessen stieg der Kopf seines Vaters aus einem Erdloch, und hinter seinem Rücken befanden sich dunkle Gestalten, die er zwar nicht sehen konnte, die ihm aber keine Ruhe ließen und gegen die er sich auch nicht wehren konnte, weil sie nicht greifbar waren und immer nur dann auf den Plan traten, wenn er die Augen schloss.
Jäh wendete er dem Leuchtturm und dem Horizont im Südosten den Rücken zu und ging in die entgegengesetzte Richtung zur Steilküste. Mit dem Wind im Gesicht blieb er am Abgrund stehen.
Er blickte nach unten. Das Salzwasser hatte die ohnehin hellen Klippen weiß gefärbt. War er deshalb gekommen? Um zu springen? Oder wollte er sehen, wie seine Eltern und Stefania durch das vertrocknete Gras auf ihn zukamen?
Stefania war nicht wie andere junge Menschen an Krebs gestorben oder bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Stefania war nicht gestorben, sie war untergegangen. Wann er das begriffen hatte, wusste er nicht mehr, aber es war nicht nach ihrem Tod gewesen, sondern lange vorher. Lange vor ihrem Tod hatte er gewusst, was passieren würde, aber er hatte nichts dagegen unternommen. Er hatte ihr nicht geholfen. Er hatte sie nicht gerettet. Stattdessen hatte er sich eingeredet, alles wäre in Ordnung. Er hatte keinen Finger gekrümmt, als seine Schwester geopfert wurde.
Seine Zehen befanden sich schon über dem Abgrund, aber er konnte nicht. Er war nicht fähig dazu. Durchaus möglich, dass er feige war, aber irgendetwas an diesen Erinnerungsfetzen war immer noch schön. Nicht alles war hässlich. Die lebende Stefania im Gras, das vor Insekten surrte. Damals war sie noch lebendig, der Abstieg hatte noch nicht begonnen. Sie war stark gewesen, eine Beschützerin. Dieses Bild konnte er nicht zerstören.
51
Eva Karlén hatte einen Scheinwerfer im Badezimmer aufgestellt, um besser arbeiten zu können. Nachdem sie den Fußboden, das japanische Badebecken und die Wand darüber mit einer Mischung aus Luminol und Wasserstoffperoxid eingesprüht hatte, schaltete sie das Licht aus.
Das ganze Bad leuchtete blau.
Es war schwer genug, Blut so restlos aus einer Emailwanne zu entfernen, dass die Luminolmischung nicht reagierte, aber bei Steinen mit Mörtelfugen war es vollkommen unmöglich.
Die Kamera stand bereit. Schnell machte Eva Fotos, bevor der bläuliche Schein verblasste.
Sie untersuchte nun zum dritten Mal das Haus. Während sie neben dem Becken kniete und Proben von den Fugen nahm, hörte sie in ihrem Kopf eine vertraute Stimme dozieren. Sie gehörte einem ihrer Lehrer aus der kriminaltechnischen Ausbildung. »Merkt euch, dass man nur das findet, wonach man sucht!« Sie konnte zu ihrer Rechtfertigung vorbringen, dass die Ermittlungen keinen Anlass gegeben hatten, im Badezimmer unten im Keller nach Blutspuren zu suchen, doch diese Argumentation war nicht tragfähig. Genau darum ging es ja bei diesem Leitsatz. Bei einer schlechten Tatortanalyse vermutet man nur einen einzigen möglichen Tathergang. Sie schüttelte sich, stand auf und klappte ihren kleinen Hocker aus
Weitere Kostenlose Bücher