Gotland: Kriminalroman (German Edition)
trug eine hellgelbe Mütze, die unter dem Kinn zugebunden war.
Ihr Vater war zurückgekehrt, als die Ärzte sagten, dass Stefania vermutlich nicht durchkommen würde. Mama hatte ihn immer wieder angerufen. Irgendwann hatte er sich endlich ins Flugzeug gesetzt. Er befand sich etwa zehn Kilometer über dem gefrorenen Boden Sibiriens, als Stefania zum allerletzten Mal einschlief. Er blieb drei Tage zu Hause, kümmerte sich um alles, besprach mit dem Bestattungsinstitut die Beerdigung und legte das Datum fest. Dann musste er wieder los, wollte aber zum Begräbnis wiederkommen. Es ging nicht anders.
Drei Wochen später wurde Stefania beerdigt. Es war ein kalter klarer Tag im November, an den dürren Zweigen hingen noch vereinzelte gelbe Blätter. Ein sinnloser und schrecklicher Tag. Die Levider Kirche war Elin unpassend vorgekommen. Sie wusste noch, dass sie damals gedacht hatte, diese Kirche, die dort zwischen ein paar Häuser gequetscht auf der falschen Straßenseite stand, passe überhaupt nicht zu Stefania. Die ganze Beerdigung wurde ihr überhaupt nicht gerecht.
Sie und Ricky standen rechts und links von ihrer Mutter vorne am Sarg und legten ihre Blumen ab. Der Eichensarg hatte Griffe aus Messing. Ihr Vater hatte ihn ausgesucht, aber nun war er nicht da. Sie standen alleine vor dem Sarg. Irgendetwas war dazwischengekommen. Er stecke in einer furchtbaren Klemme, hatte er Mama erklärt. Würde er Tokio jetzt verlassen, könnte er gleich seinen Hut nehmen und mit Sack und Pack zurückkommen. Niemand hätte ihm je wieder so einen Job anvertraut. Elin konnte sich gut erinnern, wie ihre Mutter am Telefon geweint und geschrien hatte. Soweit sie wusste, war ihre Mutter ihrem Vater gegenüber nur dieses eine Mal laut geworden. Sie wusste nicht, ob es Konsequenzen gehabt hatte, als er zehn Tage nach dem Begräbnis nach Hause kam, aber im Grunde spielte das auch keine Rolle. Die Konsequenzen waren nie konsequent gewesen.
Elin streifte die Schuhe ab und zog die Beine an. Sie griff nach der Zeitung, die sie mit dem eiskalten Rotwein gekauft hatte, verspürte aber keine Lust mehr, sie zu lesen. Stattdessen rollte sie die einzelnen Seiten von der rechten oberen Ecke her zu schmalen Röllchen zusammen.
Sie und Ricky standen rechts und links von Mama, und sie musste die ganze Zeit daran denken, wie es wohl war, tot in diesem Sarg zu liegen, konnte es sich aber nicht vorstellen. Sie hatte ein seltsames Bild vor Augen: ein nacktes Mädchen unter einem Holzdeckel. Aus irgendeinem Grund stellte sie sich den Tod nackt vor. Egal, wie viele Kleider man trug, wenn man tot war, konnte man nie wieder richtig angezogen sein. Und der Deckel konnte jeden Augenblick weggerissen werden, und dann würde man splitternackt vor der ganzen Trauergemeinde liegen. Das war beängstigend, fand sie. Vor Publikum nackt in einer Kiste, unfähig, wegzurennen oder sich zu bedecken. Das war der Tod.
Heute wusste sie natürlich, dass ihre Vorstellung nicht das Geringste mit dem Tod zu tun hatte. Das nackte, ängstliche und beschämte Mädchen unter dem Deckel war niemand anderes als sie selbst.
Nun musste sie Särge aussuchen. Eiche mit Messingbeschlägen? Sie musste mit dem Bestatter sprechen und alles organisieren. Nur sie allein. Sie wunderte sich nicht, dass Ricky weggelaufen war. Es war nicht das erste Mal. Sie hatte der Kripo erzählt, dass er damals vor seinem gescheiterten Wirtschaftsstudium nach Portugal geflohen war. Für den Rückflug musste ihr Vater ihm Geld an eine portugiesische Bank überweisen. Was er dort wohl getrieben haben mochte? Hatte er gefeiert, Angst gehabt, in Selbstmitleid gebadet? Vielleicht alles auf einmal. Nach drei Wochen war jedenfalls sein Geld alle gewesen.
Sie fragte sich, ob es ihm gut ging, aber eigentlich machte sie sich keine Sorgen. Sie rechnete damit, dass irgendwann ein Anruf kam. Jetzt hatte er ja niemand anderen mehr, den er anrufen konnte. Vielleicht würde es ein, zwei Wochen dauern, aber dann würde er sich melden und ihr eine umständliche und größtenteils erfundene Geschichte auftischen, die darauf hinauslief, dass sie ihm Geld schicken musste, damit er wieder nach Hause kommen konnte.
Elin schlüpfte in die Schuhe und ging ihr Glas nachfüllen. Sie brauchte mehr von dem kalten und sauren Wein.
Lennart Svensson sah sich gerade Nicht gesellschaftsfähig mit Marilyn Monroe an, als Fredrik und Sara an seiner Tür klingelten. Er drückte auf Pause, sodass Clark Gables Gesicht auf dem Bildschirm erstarrte.
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