Gotland: Kriminalroman (German Edition)
Als er merkte, dass sie abgeschlossen war, versuchte er, zwischen den beiden Vordersitzen hindurchzukrabbeln, wurde aber von dem Kollegen hinter dem Lenkrad davon abgehalten.
»Arvid! Wenn das im Haus mein Sohn ist, wenn Anders tot da drinnen liegt, dann war er es. Dann hat Arvid es getan. Wenn das mein Sohn ist, dann war er es. Er ist zu allem fähig, zu allem …«
Gustav sah Fredrik und Ove fragend an, aber nichts in ihren Blicken deutete an, dass sie aus den Worten des Mannes schlauer geworden waren als er.
»Sie sind also nicht der Vater von Arvid Traneus?«
»Ich?« Der Mann spuckte aus.
Gustav zuckte zurück und murmelte: »Das ist doch sinnlos.«
»Arvid!«, zischte der Mann. »Arvid! Da habt ihr euren Mörder.«
Gustav schlug die Tür zu. Erleichtert, dass sie nicht neben dem aufgebrachten Mann sitzen mussten, wendeten die drei dem Streifenwagen den Rücken zu.
»Wie hat er davon erfahren?«, fragte Fredrik.
»Die gotländischen Buschtrommeln sollte man nicht unterschätzen«, sagte Ove.
Fredrik betrachtete den Mann hinter der spiegelnden Scheibe.
»Ich frage mich nur, warum er sich sofort ins Auto gesetzt hat und hierhergefahren ist, um herauszufinden, ob sein Sohn ermordet wurde.«
Sonntag, 29. Oktober,
Karolinska-Krankenhaus, Solna
Sara Oskarsson stand mit dem Rücken zu Fredrik und verfolgte, wie sich die Tür des Krankenzimmers sanft und lautlos schloss. Seit ihrer Kindheit hatte sie geglaubt, Krankenhäuser würden einen ganz speziellen und nicht sonderlich angenehmen Geruch verströmen. Nun merkte sie plötzlich, dass das nicht stimmte. Dieses Krankenhaus war sauber, staubfrei und geruchlos.
Sie hörte Fredrik atmen und drehte sich um. Er sah sie an. Auf dem Weg zum Fußende seines Bettes erhaschte sie einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken, sah ihre schwarzen Haare, die ihr jetzt bis über die Schultern hingen. Fredrik beobachtete sie. Das musste ein gutes Zeichen sein. Es war jedoch fraglich, ob er sie wirklich erkannte oder ob er nur eine Bewegung registrierte.
Die Ärzte taten sich schwer mit einer Prognose. Offenbar konnte er ebenso gut wieder vollkommen gesund werden oder in diesem Zustand verbleiben. Beides war wahrscheinlich. Bislang ließ sich nicht sagen, ob sein Gehirn dauerhafte Schäden erlitten hatte. Aber es schien aufwärtszugehen.
Fredriks Kopf war auf der linken Seite rasiert. Die noch unverheilte Operationsnarbe war mit einer Kompresse und einem weißen Verband bedeckt. Darüber war eine Art durchsichtiger Strumpf gezogen, der an einen coolen Rapper erinnerte. Wenn man davon absah, dass Fredrik nicht besonders cool aussah. Es half, solche Gedanken zu denken. Der Anblick wurde dadurch erträglicher.
Fredrik war einer der Kollegen, die ihr am nächsten standen. Genau wie sie stammte er aus Stockholm. Als er nach Visby kam, hatte sie sich über den neuen Gesprächspartner gefreut, bei dem sie kein Blatt vor den Mund nehmen musste. Die Landeier waren leicht eingeschnappt. Man musste aufpassen, dass man niemandem zu nahe trat. Nicht unbedingt unter den Kollegen, aber in anderen Kreisen. Als Frau vom Festland und Amtsperson war sie für manche ein doppeltes Feindbild.
Sie war sich nicht mehr so sicher in Bezug auf Gotland. Ihre anfängliche Begeisterung hatte sich gelegt. Die Arbeit machte Spaß, das war nicht das Problem. In der ersten Zeit hatte sie befürchtet, die Aufgaben könnten zu banal sein, doch im Nachhinein wäre sie mit etwas weniger Dramatik auch zufrieden gewesen. Im Sommer vor zwei Jahren hatte sie am Bett eines Kollegen gestanden, der mit gebrochenem Arm und überhaupt ziemlich ramponiert im Krankenhaus lag, weil an Bord einer Fähre eine Bombe explodiert war.
Auch ihr Privatleben wirkte auf den ersten Blick keineswegs verkehrt. Sie kannte einige Leute, eine Beziehung lag bereits hinter ihr, und seit Kurzem hatte sie wieder eine Art Affäre.
Trotzdem. Es war nicht leicht, sich richtig zu integrieren. Es gab einen entscheidenden Unterschied zwischen Stadt und Land. In der Großstadt waren die meisten Menschen genauso entwurzelt und gestresst wie man selbst, sie wiesen einen zwar manchmal ab, waren aber auch neugierig und offen für Neues. In einer Großstadt konnte sich das Leben von einem Moment zum anderen verändern, hier dagegen dauerte es Jahre. In dieser Hinsicht war es für jemanden aus Stockholm leichter, sich in Amsterdam, Berlin oder Kopenhagen einzuleben als in Visby. Hier gab es so viele gewachsene Bindungen zwischen den
Weitere Kostenlose Bücher