Gott geweiht
dieser Kerl irgendeinen religiösen Wahn hat, stimmt’s?«
»Etwas in der Richtung.«
»Okay. Und wen nimmt er aufs Korn? Das Kind von zwei religiösen Fanatikern. Ich meine, wenn das kein böser Witz ist, was dann?«
Lee murmelte etwas Zustimmendes. Es war Ironie des Schicksals – oder nicht? Er fragte sich, ob Butts vielleicht doch auf der richtigen Fährte war. Was, wenn die Kellehers tatsächlich mehr wussten, als sie zugaben? Und wenn dem so war, was genau wussten sie?
KAPITEL 8
Dr. Georgina F. Williams war eine Afroamerikanerin von einschüchternder Erhabenheit, mit einer förmlichen Art und knappen Ausdrucksweise, die ans Frostige grenzten – wäre da nicht ihr gelegentliches unvermitteltes Lächeln gewesen.
Lee erinnerte sich daran, wie es war, als er dort gesessen hatte, wo sie jetzt saß, als er selbst Patienten behandelt hatte – der Allmächtige gewesen war. Zum Glück mochte er starke Frauen, zweifellos wegen seiner Mutter, Fiona Campbell, die selbst mit zweiundsiebzig noch eine Naturgewalt war.
Dr. Williams überkreuzte ihre grazilen Beine an den Fußknöcheln, legte ihre Fingerspitzen gegeneinander und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
Sie musterte Lee mit ihren großen, leicht vorstehenden Augen. »Also. Wie geht es Ihnen diese Woche?«
»Nicht sonderlich gut.« Es fiel ihm immer schwer, das einzugestehen, die Stimme seiner Mutter aus seinen Gedanken zu verbannen: Es geht mir gut, wirklich gut – alles bestens .
»Haben Sie weiter Albträume?«
»Manchmal.«
»Eine Menge Leute haben noch immer Probleme, den elften September zu verarbeiten.«
»Aber nicht alle hatten einen Nervenzusammenbruch.«
»Haben Sie das Gefühl, dass überall Gefahr lauert?«
»Menschliche Gefahr. Böse Menschen – Menschen, die nichts anderes wollen, als zu töten, anderen wehzutun.«
»Wie die Terroristen?«
Lee sah auf seine Schuhe. »Ja. Wie die und …«
»Und derjenige, der Ihnen Ihre Schwester genommen hat?«
Lee spürte, wie ihm heiße Tränen in die Augen schossen, und er hob die Hand, um sie wegzuwischen.
»Müssen Sie immer wieder auf meine Schwester zu sprechen kommen?« Seine Stimme war hart, gepresst.
Dr. Williams lehnte sich zurück.
»Gibt es da etwas, das Sie mir nicht sagen?«
Lee schaute aus dem Fenster.
»Ich arbeite an einem neuen Fall.«
Er erwartete Dr. Williams’ Missbilligung – sie hatten besprochen, dass es nicht gut für ihn wäre, im Moment einen Fall anzunehmen. Zu seiner Überraschung verriet ihr Gesicht jedoch keine emotionale Regung.
»Verstehe«, sagte sie. »Dann haben Sie also vielleicht an Ihren neuen Fall gedacht, als Sie die Bemerkung machten.«
»Genau«, antwortete er, obwohl er es selbst nicht glaubte. Er sah sie an, doch ihre Miene war undurchschaubar. »Sie sind nicht böse?«
»Sollte ich das sein?«
»Nun, wir sind übereingekommen, dass es wahrscheinlich noch etwas früh für mich ist – ich meine, die Sache ist mir praktisch in den Schoß gefallen, aber ich dachte, Sie würden böse sein.«
»Enttäuscht es Sie, dass ich es nicht bin?«
Die Frage brachte Lee aus dem Konzept. »Wie meinen Sie das? Wieso sollte ich enttäuscht sein?«
Dr. Williams lächelte. »Manchmal kann es enttäuschend sein, wenn man eine bestimmte Reaktion erwartet und die dann nicht kommt.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ich wollte , dass Sie böse sind?«
»Es geht nicht unbedingt um Wollen. Es geht darum, andere Menschen als Gegengewicht für die eigenen Handlungen zu benutzen. Wir haben bereits über Ihre Tendenz gesprochen, sich nicht richtig um sich selbst zu kümmern, zum Beispiel –«
»Ja, ich weiß.« Lee verspürte den plötzlichen Drang, dieses geschmackvolle Zimmer mit seiner indirekten Beleuchtung und dem leichten Eukalyptusgeruch zu verlassen. Alles fühlte sich erdrückend, einengend an, und er wollte nur flüchten.
»… und wie es Ihnen von Zeit zu Zeit gelingt, die Verantwortung an andere abzugeben.«
»Ja.« Er versuchte nicht einmal, die Verärgerung in seiner Stimme zu verbergen. Er wusste das alles – da er selbst Psychologe war, konnte er die Zusammenhänge genauso intellektuell sezieren wie Dr. Williams. Doch wenn es um sein Unterbewusstsein ging, war er immer wieder von Neuem über seine eigenen blinden Flecken erstaunt – und dass sie ihm manchmal in die Seele blickte, irritierte ihn. »Was genau wollen Sie damit sagen?«
»Nun, es scheint, Sie zählen in einem gewissen Maße darauf, dass ich mich um Sie sorge, damit Sie
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