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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.E. Lawrence
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kurz oder lang sowieso angerufen«, sagte sie und zog sich Mantel und Handschuhe an. Ihre Hände waren schmal und feingliedrig, zart wie die Hände eines Kindes, mit makellos manikürten rosa Nägeln. Lee konnte sich diese Hände nicht in einem Labor vorstellen, konnte sich nicht vorstellen, wie sie die grausigen Überreste von Mordopfern anfassten. »Wann wurde die Leiche gefunden?«, fragte sie, während sie ihren Mantel zuknöpfte.
    »Ich habe gerade erst davon erfahren.«
    »Einer Ihrer Fälle?«
    »In gewisser Weise. Es – es könnte sich um meine Schwester handeln.«
    Dr. Azarian, die sich gerade ihren zweiten Handschuh überstreifte, erstarrte. »Oh mein Gott. Was ist ihr passiert?«
    »Das genau versuche ich herauszufinden. Sie ist vor fünf Jahren spurlos verschwunden.«
    »Tut mir leid, das zu hören. Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen.«
    »Danke.«
    »Okay, dann lassen Sie uns gehen«, sagte sie.
    »Wollten Sie nicht vorher noch …?«, fragte Lee mit einem Blick Richtung Toilette.
    »Das kann warten.«
    Als sie das Gerichtsgebäude verließen, blies ein scharfer Wind von Westen her, und Lee zog seinen Mantelkragen fester um den Hals. Er sah zu Katherine Azarian, die eine Hand hochgereckt hatte, in der Hoffnung, eines der gelben Taxis abzufangen, die die Center Street entlangrasten. Selbst beim Heranwinken eines Taxis wirkte sie selbstsicher und entschlossen.
    Sie sah auf ihre Uhr. »Schlechte Zeit für Taxis. Ich denke, wir sollten den Bus nehmen. Es ist nicht weit.«
    »Okay.«
    »Gleich um die Ecke am Chatham Square ist eine Haltestelle für den M 15.«
    Lee folgte ihr in den Wind gebeugt am Gefängnis von Manhattan vorbei, dessen düstere Steinmauern steil und säulenartig in den Himmel ragten – man nannte es auch »The Tombs«, die Grabmäler. Sie eilten an der Statue von Lin Zexu vorbei, dem chinesischen Volkshelden, der den Briten die Stirn geboten hatte und nun stolz erhobenen Hauptes in der Mitte des Platzes stand. Er wirkte kalt in seiner grauen Granitrobe, den Blick zur aufgehenden Sonne gerichtet, sein Steingesicht unter einem breitkrempigen Hut. Der Statue gegenüber stand die knallrot verzierte Pagode der Republic National Bank, an der Schwelle zum Herzen von Chinatown. An einem anderen Tag hätte Lee das Gebäude vielleicht pittoresk gefunden, aber im Moment erinnerte ihn die Farbe Rot nur an eines – Blut.

KAPITEL 17

    Die Gerichtsmedizin war in einem typischen Sechzigerjahrebau untergebracht. Sie betraten die Eingangshalle, die mit ramponierten gelben Plastikstühlen und billiger Auslegeware ausstaffiert war. Innerhalb dieser farblosen Wände befanden sich die Labore und Obduktionsräume, gefüllt mit den Leichen von Menschen, die ertränkt, vergiftet, erschossen, erstochen, erschlagen und zerstückelt worden waren.
    Der Pförtner war nicht sicher, wohin genau er sie schicken sollte, daher machten sie sich zum Großen Obduktionssaal auf. Dort standen sie vor einer Scheibe, die so sauber war, dass sie wie unsichtbar wirkte, und schauten sich nach einem Pathologen oder einem Laborassistenten um. Doch drinnen war keine lebende Seele zu entdecken, und alles war still wie ein Grab. Die einzigen Anwesenden waren ein halbes Dutzend aufgebahrte Leichen in verschiedensten Stadien der Verwesung. Die gestärkten weißen Laken, mit denen sie zugedeckt waren, konnten nicht die Verwüstungen des menschlichen Körpers verbergen, die der Tod mit sich brachte – hier ragte ein bläulicher Arm hervor, dort sickerte ein brauner Fleck durch das schneeweiße Tuch.
    Lee wandte den Blick ab. Wenigstens würde Laura, wenn man sie fand, nur aus sauberen weißen Knochen bestehen. Er sah Kathy an, doch ihr Gesicht war grimmig und verschlossen. Vielleicht war ihr der Anblick von Leichen ebenso zuwider wie ihm.
    Chuck Morton kam mit seinem Handy am Ohr den langen Flur herauf. Er winkte Lee und sagte ins Handy: »Hör zu, ich muss Schluss machen. Ich rufe dich nachher an.« Er steckte das Telefon in seine Brusttasche und trat mit einem reuigen Gesicht zu ihnen. »Ich verpasse schon wieder ein Fußballspiel. Ich fürchte, in letzter Zeit mache ich als Dad nicht viel her.« Er sah zu Kathy und streckte ihr seine Hand hin: »Chuck Morton, Lieutenant, Bronx Major Case Unit.«
    Sie schüttelte seine Hand. »Katherine Azarian.«
    »Oh ja, ich habe schon von Ihnen gehört. Sie sind in Philadelphia tätig, stimmt’s?«
    »Ja. Ich bin hier, um im Lorenzo-Prozess auszusagen.«
    »Ach ja, richtig – das Skelett, das in

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