Gott geweiht
manchmal nicht. Es war bedeutend schlimmer, wenn er ihn nicht kannte.
Der Grund für die heutige Angstattacke war ihm bewusst – es war Kathy Azarian. Die Begegnung mit ihr hatte seine Welt erneut aus dem Lot gebracht. Er fürchtete, dass er die mühsam errungene Kontrolle über seine Emotionen wieder verlieren könnte. Und er wollte sich um keinen Preis noch einmal so fühlen wie in den Monaten nach dem Verschwinden seiner Schwester.
Er blieb eine Weile zusammengekauert im Bett liegen, während sein Verstand unablässig im Kreis lief wie ein Löwe im Käfig. Lee warf einen Blick auf den Wecker neben dem Bett. Die roten Digitalziffern zeigten 10:32 Uhr, die Punkte zwischen den Zahlen blinkten wie Warnlichter.
Eine Weile nach Lauras Tod hatte er eine Panik vor seinem Anrufbeantworter entwickelt. Er fürchtete sich davor, das blinkende rote Lämpchen zu sehen, das verkündete, dass er Nachrichten hatte. Er hatte eine Heidenangst vor den Bedürfnissen und Forderungen anderer Menschen, fürchtete, dass er sie enttäuschen würde – oder schlimmer noch, dass er von ihnen vereinnahmt werden würde.
Außerdem war er bei jeder Nachricht überzeugt, dass es die Polizei war, die ihm mitteilen wollte, dass man die Leiche seiner Schwester gefunden hatte. Trotz seiner Gewissheit, dass sie tot war, fürchtete er sich vor diesem Anruf.
Er quälte sich aus dem Bett, schlich ins Bad, wusch und rasierte sich wie in Trance, so als würde er schlafwandeln. Er zwang sich, auf seinen Anrufbeantworter zu schauen. Zu seiner Erleichterung gab es keine Nachrichten.
Mit zitternder Hand griff er zum Telefon und rief seine Therapeutin an. Nachdem er ihr eine Nachricht hinterlassen hatte, fühlte er, wie mit jeder verstreichenden Minute seine letzte Willenskraft verebbte. Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und versuchte sich einzureden, er hätte Appetit. Heute keinen Kaffee – wenn er so aufgekratzt war, war Koffein das Letzte, was er brauchte. Er starrte auf die Schüssel mit Bananen auf dem Tisch, doch darauf hatte er keinen Hunger. Er setzte sich ans Klavier, konnte sich aber nicht auf die Noten vor sich konzentrieren.
Endlich klingelte das Telefon. Er war beim zweiten Läuten am Apparat.
»Hallo?«
»Hallo, Lee, Georgina Williams hier.«
Ihre Stimme klang kühl, doch gleichzeitig vertraulich, mit gerade dem richtigen Maß an professioneller Distanziertheit.
Er redete nicht lange um den heißen Brei herum: »Haben Sie heute einen freien Termin, hat vielleicht jemand abgesagt?«
»Wie es sich trifft, hätte ich einen in einer Stunde, wenn Sie so schnell hier sein können.«
»Klasse. Wir sehen uns in einer Stunde.«
Er legte auf und zwang sich, tief durchzuatmen. Dann ging er in die Küche, griff sich eine Banane aus der Schüssel und zwang sich, sie zu essen.
Eine Stunde später saß er in dem vertrauten Zimmer. Auf dem Tisch neben Dr. Williams stand diesmal eine Vase mit Nelken und verströmte ein Muskataroma.
»Okay, Sie haben eine Panikattacke, Sie sind nervös«, sagte Dr. Williams mit ihrer weichen, kultivierten Stimme. »Aber fühlen Sie sonst noch etwas?«
»Traurigkeit, vielleicht.«
»Sonst noch etwas?«
Lee sah sie an. »Was, zum Beispiel?«
»Zum Beispiel – Wut, möglicherweise.«
In seinem Magen brodelte es – ja, dort brodelte Zorn.
»Okay«, erwiderte er, »ich bin wütend. Wie gehe ich damit um?«
»Nun, sich dieses Gefühl einzugestehen ist ein guter Anfang. Und dann könnten Sie mir all die Dinge nennen, auf die Sie wütend sind.«
Lees Miene wurde verkniffen.
»Okay«, sagte er grimmig. »Ich bin wütend auf meine Mutter, weil sie die Wahrheit nicht sehen will – dass Laura von uns gegangen ist, dass sie niemals zurückkommen wird. Sie kann einfach nicht akzeptieren, dass Laura tot ist.«
»Dann sind Sie also wütend auf Ihre Mutter, weil sie sich an die Hoffnung klammert.«
»Ja. Es ist an der Zeit loszulassen, der Realität ins Auge zu sehen.«
»Was, wenn die Realität zu schmerzhaft ist?«
»Die Realität ist oft zu schmerzhaft. Das ist keine Entschuldigung. Man muss sich ihr trotzdem stellen.«
»Dann wünschten Sie also, Ihre Mutter besäße Ihren Mut?«
»Ja, ich schätze schon. Denn dann könnte ich – ich könnte mit ihr trauern. Es wäre etwas, das wir gemeinsam durchleben könnten.«
Dr. Williams nickte mitfühlend. »Ja, es ist schwer, wenn uns Menschen, die uns am Herzen liegen, kontinuierlich enttäuschen.«
»Da ist noch etwas anderes.« Wie sollte er
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