Gott ist tot
er.
»Ein Heineken vielleicht?«, sage ich.
»Aber gerne.« Er zeigt auf das Büffett an der Rückwand des Speisesaals. »Sie dürfen sich bedienen.«
Und obgleich ich keinen Hunger habe, sage ich mir, warum nicht? Das werden für lange Zeit die letzten Wan Tan und der letzte gebratene Reis sein, die ich zu kosten bekomme. Also
trete ich den Spießrutenlauf durch die murrenden Essensgäste an. Von säuerlich verzogenen Lippen tönt Selias Name. Bis ich beim Büffett anlange, sind dort alle geflohen außer einem Jungen von etwa vierzehn, auf dessen T-Shirt zu lesen steht: I HAVE THE DICK, SO I MAKE THE RULES.
Als ich mit meinem vollgeladenen Teller zu meinem Tisch zurückkehre, entdecke ich an der gegenüberliegenden Wand Jeff mit seiner Familie. Er lächelt und winkt. Ich stecke den Daumen in den Mund und blähe die Backen, als würde ich einen Ballon aufpusten. Dazu recke ich langsam den Mittelfinger hoch, bis er vollständig »aufgeblasen« ist, dann strecke ich ihn Jeff hin. Er lächelt unverändert weiter.
Ich bin bei meinem zweiten Teller und dem dritten Bier, als die Türen aufgehen und ein Chor lautsprecherverstärkter Gongs losscheppert. Herein kommt Selia mit ihrer Mutter im Schlepptau, und Stille senkt sich über das Lokal herab, als die Gongs ausklingen.
Selia bittet um Aufmerksamkeit, aber die ist ihr ohnehin sicher.
»Inzwischen wissen wahrscheinlich die meisten von euch von meinem Kontakt zu diesem Mann da.« Sie zeigt mit dem Finger auf mich. »Ich kann mir vorstellen, was ihr jetzt von mir denkt. Ihr haltet mich für eine Verräterin, eine Hure, einen Schandfleck unserer Gesellschaft. Aber was ihr nicht wisst: mein Ziel war es nie, mit diesem Stück Dreck zusammenzubleiben, sondern unsere Gemeinde von ihm zu befreien. Und jetzt bietet sich mir endlich die Gelegenheit.«
Nicht wütend genug, denke ich. Nicht verächtlich genug. Knie dich rein, Baby. Zeig’s ihnen.
»Bevor ich heute hierhergefahren bin, habe ich beim Sheriff von Kennebec County angerufen«, fährt sie fort. »Während ich hier stehe, durchsuchen Polizeibeamte bereits sein
Haus. In diesem Haus werden sie einen Safe finden. Und in dem Safe versteckt - eine große, sorgfältig kommentierte und durch und durch illegale Sammlung von Kinderbekleidungskatalogen!«
Ein Raunen geht durch den Speisesaal. Selia hat nur noch den letzten Teil ihrer Ansprache vor sich, das höhnische kleine Tüpfelchen auf dem i, das mich als Heuchler und Kindesanbeter an den Pranger stellt. Aber ihre Augen werden verdächtig feucht, und ich springe in die Bresche, bevor sie alles verdirbt. Ich stehe vom Tisch auf, mit dem verwundeten Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich verraten fühlt.
»Selia«, sage ich. »Wie konntest du mir das antun?«
Sie sieht mich an. In ihren Augen schimmert es. Einen furchtbaren Moment lang denke ich, sie knickt ein und fällt mir um den Hals, aber dann verdüstert ein Hass ihre Züge, der so wirklich und unerbittlich ist wie der Tod.
»Halt’s Maul, du Perversling.« Sie holt aus und tritt mich mit voller Wucht in die Eier. Ich gehe zu Boden wie ein Sack Zement, ganz und gar überzeugt.
Totenstille im Restaurant.
»Betty«, sagt Selias Mutter und zupft an ihrem Arm. »Betty. Es gibt Rindfleisch mit Broccoli hier. Können wir Rindfleisch mit Broccoli essen?«
Im Gefängnis ist es nicht annähernd so schlimm, wie Staatsanwälte und Nachrichtenmagazine uns glauben machen. Jedenfalls nicht in dem Gefängnis, in das sie mich gesteckt haben, einer Anstalt der Sicherheitsstufe 1 in der Küstenregion. Keine Messerattacken unter der Dusche, keine Knastvergewaltigungen. Unter meinen Mithäftlingen befinden sich keine Gewalttäter, es sind durch die Bank zivilisierte, gebildete Menschen, denen man ohne Weiteres ein Messer in
die Hand geben würde, wenn nicht sogar seine Brieftasche. Ich esse ausgewogen. Auf dem Gefängnisgelände bewege ich mich mehr oder weniger frei. Es gibt Kabelfernsehen, und am Dienstag- und Samstagabend laufen im Gemeinschaftsraum Filme. Wir spielen Volleyball im Hof, Basketball, Stockschießen. Einmal pro Woche treffen sich fünf oder sechs von uns im Lichthof zum Pokern. Ich habe eine angenehme Arbeit als psychologischer Berater, der anderen Insassen hilft, mit Depressionen, sexuellem Entzug und den Schuldgefühlen fertig zu werden, die sie ihrer enttäuschten, mit Schande beladenen Familien wegen plagen.
Ich hatte beinahe vergessen, wie es sich anfühlt, gemocht zu werden.
Dennoch hat mich bis
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