Gott ist tot
mit dem Essen fertig waren, hatte Selia es aufgegeben, ein Gespräch in Gang bringen zu wollen. Sie zündete sich eine Zigarette an, die zweite der beiden, die sie sich jeden Tag genehmigte, und dann schauten Mutter und Sohn stumm auf die Brecher hinab, die vom offenen Meer heranrollten.
Arnold zog sein Handy aus der Tasche und tippte eine Nachricht.
göttliche amanda: in letzter zeit merke ich immer mehr, wie viele kleine marotten ich mit meinem vater gemeinsam habe. die art zum beispiel, wie ich fremde auf der straße mit einem ganz knappen, gepressten »hi« grüße, das fast nur aus einer halben silbe zu bestehen scheint. oder wie ich manchmal die lippen spitze, wenn ich mich auf etwas konzentriere, eine schraube in ihre öffnung drehe oder so was - genau wie er. solche verhaltensmuster sind wahrscheinlich auch lernbar, aber besonders das lippenspitzen scheint mir aus irgendeinem grund eindeutig eine genetische sache zu sein.
ewig der deine
Selia schob sich die Sonnenbrille ins Haar und sah zu ihm herüber. »Wenn dein Mitteilungsdrang bei mir wenigstens halb so groß wäre«, sagte sie, und Rauch strömte aus ihrem Mund. »Stunden tippst und tippst du nur. Was schreibst du diesem Mädchen bloß alles?«
Arnold antwortete nicht. Stattdessen begann er eine neue Nachricht:
göttliche, zauberhafte amanda: bis gestern war ich mir sicher, dass mein platz nicht mehr hier ist, sondern bei den marines. aber gestern war colonel redmond bei uns in der klasse, und seitdem weiß ich nicht mehr so recht. dieser ganze schwachsinn über waffen und schießen. hinterher hat er mich dann zwar beiseitegenommen und behauptet, eigentlich wollten sie leute wie mich. nur kann das natürlich genauso eine »verkaufsmasche« sein, wie er dazu sagt. gut, letzten endes ist es wahrscheinlich egal, ob er aufrichtig zu mir war oder nicht, ob er an die sache glaubt oder nicht. es geht nur
darum, ob ich daran glaube oder nicht. und das tue ich. ich glaube mehr daran als an irgendetwas sonst, außer natürlich an d …
»Ich habe dich etwas gefragt«, sagte Selia und schnappte Arnold das Telefon weg, bevor er seine Nachricht zu Ende tippen konnte. Sie stand schnell auf und bog sich weg, kichernd, als er sich hochrappelte und an ihr vorbeizugreifen versuchte, um sich das Handy zurückzuholen.
»Und wie bedient man dieses Teil jetzt?«, sagte sie.
»Mom«, sagte Arnold. »Mom, gib’s wieder her.«
»Ich will wissen, worum ihr alle so ein Geschiss macht«, sagte sie und drehte sich so, dass er nicht an den Apparat herankam. » Scroll up/down. Okay, das bringt uns der Sache schon näher.«
»Mom!«, sagte Arnold.
»Oh!« Selias Augen weiteten sich amüsiert. » Göttliche Amanda «, hauchte sie und drückte sich den Handrücken an die Stirn, als fühlte sie eine Ohnmacht nahen. »Oh, das ist klasse, Mann. Das ist echt klasse.«
»Selia!«, schrie Arnold. Er hatte es aufgegeben, ihr das Ding abnehmen zu wollen, und stand nur da, die Hände zu Fäusten geballt. »Gib das verdammte Telefon her!«
Aber plötzlich lachte Selia nicht mehr; sie schien ihn gar nicht zu hören. Ihre Hand fiel von ihrer Stirn herab, als sie weiterlas, wieder ein Stück scrollte, weiterlas. Arnold wartete schwer atmend. Sein Gesicht brannte vor Wut und Scham gleichermaßen. Als Selia fertig war, hielt sie ihm das Handy hin, und er bog die Faust auf und nahm es.
Ohne ein Wort fing Selia an, Teller, Besteck und Essensreste einzusammeln und in den Korb zu pfeffern. Sie riss die Decke vom Boden weg, knüllte sie zusammen und warf sie
zu den übrigen Sachen. Dann stemmte sie den Korb hoch über ihren Kopf und schmiss ihn mit lautem Platschen in das Felsenbecken, wo er eine Weile auf den Wellen wippte, die der Aufprall verursacht hatte, und dann langsam zu sinken begann.
Selia sah zu, wie er unterging. »Jetzt sage ich dir etwas, was du noch nicht weißt«, sagte sie, ihre Stimme kaum hörbar durch das Rauschen der Brandung. »Vor vielen Jahren hatte dein Vater schon einmal einen Sohn. Deinen Halbbruder. Er ist gestorben. Genau wie die erste Frau deines Vaters.«
Arnold fiel keine Reaktion ein. Er hatte ein seltsam pickendes Gefühl zwischen den Augen, als tippte ihn dort jemand wieder und wieder mit einem Hämmerchen an. Vage begriff er, dass das sein Herzschlag war.
Selia sah ihm ins Gesicht. »Ich hasse dich dafür, dass du mich dazu treibst«, sagte sie, und bei dem Wort hasse fühlte Arnold sich plötzlich viel kleiner, als er eigentlich war, aberwitzig klein,
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