Gott ist tot
so klein wie in seiner Säuglingszeit, an die er doch gar keine Erinnerung hatte. Tränen brannten ihm plötzlich in den Augen. »Ich hasse dich dafür, dass ich jetzt klinge wie eine hysterische Idiotin. Aber ich war in meinem ganzen Leben noch nie so traurig und so wütend, und alles, was mir einfällt, sind Klischees. Also sag ich es trotzdem: Wenn du zu den Marines gehst - wenn du in diesen lächerlichen Krieg ziehst und deinem Vater zum zweiten Mal das Herz brichst -, bist du nicht mehr mein Sohn.«
Selias Augen waren trocken. Sie ließ Arnold stehen und fing an, den Weg zwischen den Felsen zurückzuklettern, ohne sich noch einmal umzuschauen. Arnold sah ihr nach und fühlte das Schluchzen tief unten aus seinem Bauch in die Kehle hochsteigen wie einen Brechreiz, und sosehr er es niederzukämpfen versuchte, um Amanda nur ja keine Schande
zu machen, kam er doch nicht dagegen an. Er setzte sich auf die Kante der Granitplatte, ließ die Beine übers Wasser hängen und tippte durch seine Tränen:
öttliche, amanda: scheiß scheiß scheiß scheiß scheiß auf sie
OFFIZIERSPATENT FÜR JUNGEN AUS BAR HARBOR
von unserem Redaktionsmitglied Linda Merrill
Quantico, Virginia - Arnold Ankosky, 17, aus Bar Harbor, hat diesen Donnerstag als einer von 42 Absolventen den Lehrgang an der Offiziersakademie des Marinekorps der Postmodernen Anthropologen in Quantico erfolgreich abgeschlossen. Ankosky erhält den Rang eines Leutnants und wird der 7. Marine-Expeditions-Brigade mit Stützpunkt in San Diego zugeteilt. Die 7. Brigade ist derzeit in heftige Kämpfe mit Truppen der Evolutionspsychologen in der Sierra Madre in Mexiko verwickelt, wo Ankosky den Posten eines Zugführers übernimmt.
Mein Bruder, der Mörder
Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte.
1. Mose 4,13
A ls ich Mittwochabend von der Arbeit heimkomme, stehen vor dem High Hopes Center für Geisteskrankheiten massenweise Rettungsfahrzeuge - Krankenwagen und Polizeiautos, deren rotes und blaues Geflacker die Herbstnacht ausleuchtet. Es müssen zwischen zwanzig und dreißig sein, kreuz und quer am Straßenrand und auf dem Parkplatz des Heims geparkt. Ein paar der Streifenwagen sind von den State Troopers, und schon daran sehe ich, dass etwas richtig Schlimmes passiert sein muss. Die Stadt, in der ich wohne, ist klein, aber Polizisten gibt es genug; die State Troopers werden nur dann eingeschaltet, wenn die hiesige Polizei überfordert ist.
Ein Verkehrspolizist winkt mich mit seiner Handlampe vorbei, und ich sehe, dass zwischen den Krankenwagen und Polizeiautos drei CNN-Übertragungswagen aus anderen Bundesstaaten stehen, zusammen mit den Reportern der Lokalpresse.
Ich fahre auf schnellstem Weg nach Hause. Die Straßen sind leer, und ich überfahre eine rote Ampel. Eigentlich wollte ich unterwegs noch Zigaretten und Orangensaft kaufen, aber das lasse ich lieber.
Gleich beim Hereinkommen höre ich, dass im Wohnzimmer die Nachrichten laufen. Melissa wartet schon auf mich. Sie sitzt am Küchentisch, die Hände um eine Tasse Tee gewölbt.
Ihre Haare sind zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie hat geweint. Ihr Blick ist seltsam - traurig vor allem, aber es ist auch noch etwas anderes dabei - Ekel vielleicht? Oder Angst? Deuten kann ich ihn nicht, aber er verheißt nichts Gutes.
Was ist denn, Lissa?, frage ich, obwohl ich es letztlich schon weiß, es im Grunde schon in dem Moment wusste, in dem ich diese Mengen von Polizeiautos gesehen habe. Was zum Teufel ist da los?
Und sie versucht es mir zu sagen, aber es dauert eine Weile, weil sie zwischendurch immer wieder in Tränen ausbricht und sich erst wieder fassen und die Augen wischen muss. Einmal stockt sie mitten im Satz und starrt minutenlang stumm in ihre Tasse. Schließlich aber ist es doch alles heraus, und ich muss auf meine Beine hinunterschauen, um mich zu vergewissern, dass sie noch da sind, und ich setze mich neben sie an den Tisch, damit ich nicht auf dem Küchenboden lande. Eine Zeitlang sitzen wir schweigend beieinander. Melissa trinkt kleine Schlückchen von ihrem Tee. Ich spüre etwas Warmes über mein Gesicht laufen und an meinem Kinn heruntertropfen, und als ich hinschaue, ist da ein kleiner nasser Fleck auf dem Tisch, und ich begreife, dass ich jetzt auch weine.
Im Hintergrund tönen immer weiter die Nachrichten.
Etwas später will ich Melissas Hand fassen, aber sie zieht sie weg. Ich blicke zu ihr hoch, und nun gibt es an dem
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