Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
künstlich, gezwungen: Wenn er sie verletzen wollte, nannte er sie eine zweitklassige Schauspielerin. Nur in einer Hinsicht hatte der Zwischenfall mit den sechs Attentätern auf ihn eine Wirkung. Da er wußte, daß sie sich niemals zur Ruhe setzen würden, und er warten mußte, bis sie starben, schlug er die Morgenzeitung niemals mehr ohne ein Gefühl gräßlicher Beklommenheit auf.
Geschenkter Hund
Angela betrachtete sich im Spiegel und taxierte kühl ihren Marktwert. Sie war nackt, und ein paar Tropfen Badewasser glitzerten noch auf ihren Schultern und Armen. Morgen sollte sie heiraten. Und es war die letzte Gelegenheit, sich mit solcher Unvoreingenommenheit zu betrachten. Sie dämpfte das Licht, denn die Helle schien ihr plötzlich zu indiskret. Kaum war das Zimmer ins Halbdunkel getaucht, nahm sie ihren Platz vor dem Spiegel wieder ein, um festzustellen, wie schmeichelhaft Photographie sein kann, wenn die Kunst des Dunklen und das Werk des Lichts zusammenspielen. Ihr Mann würde mehr bekommen, als er verdiente. Ihr Körper war voll und reif und dennoch verschwiegen in seiner Üppigkeit. Aus allen Blickwinkeln war sie schön, und sie besah sich ihr Antlitz mit einem Ausdruck dahinschmelzender Dankbarkeit, die ihr die Quintessenz inniger Weiblichkeit zu sein schien. Dann verhärteten sich ihre Gesichtszüge, und sie tadelte sich mit einem Blick voll der besten Erziehung. »Närrin«, sagte sie laut. »Närrin.«
Sie war sechsundzwanzig, ein Alter, in dem eine Frau, die argwöhnt, daß sie niemals heiraten wird, die erste Bestätigung lebenslanger Einsamkeit zu fühlen beginnt. Umgekehrt ist dies ein Alter, in dem jene, die Kinder mehr als jede andere Quelle der Fruchtbarkeit begehren, die ersten Stiche der Verzweiflung zu empfinden beginnen. Sie war beinah eine Ewigkeit mit Bryan Upstreet verlobt gewesen. Sie hatten sich als Kinder gekannt und sich gehaßt. Ihre Eltern waren befreundet und schienen sich zu verstehen. Jugend und Schulzeit traten dazwischen, und beide waren sie für einige Zeit getrennte Wege gegangen: er an eine berühmte Internatsschule in den Midlands, sie an ein altehrwürdiges Töchterseminar auf den Klippen von Kent. Als sie sich wiedertrafen, betrachteten sie einander mit der scheuen Zuneigung, die kindliche Haßliebe in jungen Erwachsenen hinterlassen kann. Ein Teil ihrer Beziehung war bereits das Resultat von deren Langlebigkeit, eine Eigenschaft, die gewöhnlich das Monopol wesentlich älterer Leute ist. Was sie aber nie erkannten, ist, daß ihre Schulen sie witzigerweise auf genau solch eine Ehe, auf genau solch eine distanzierte, vernünftige Liebe vorbereitet hatten. Sie sprachen mit dem gleichen abgehackten Akzent der britischen Oberschicht, mit den ärgerlichen, groben Verunstaltungen einer Sprache Chaucers und Shakespeares, den schrulligen Abkürzungen, den herausgeschleuderten Vokalen und dem plötzlichen barocken Überschwang, der einen einzigen Laut mit einem Regenbogen von Farben befrachtet, wo grammatikalisch und ästhetisch nur Platz für eine einzige ist. Sie hielten bei Tanzveranstaltungen Händchen, bis es zur Gewohnheit wurde, verbunden durch ihr Gefühl der Zugehörigkeit, nicht notwendig zueinander, sondern zu einer etablierten Norm. Aber natürlich wäre die Oberschicht niemals zur Oberschicht geworden, hätte sie sich von Anfang an so benommen. Wie alle Dinge ihre Zeit haben, so muß auch Dekadenz zwischen Aufstieg und Wiedererneuerung treten. Die Eleganz von heute ist nur das Resultat der Skupellosigkeit von gestern. Der Ehrenwerte Gyles Carchester-Fielding war es, der dies unter Beweis stellte, und zwar mehr als einmal. Er war selbstverständlich der Erbe eines Lord Sparshot. Selbstverständlich.
Mit yeah-yeah hatte er sich einen Weg in Angelas Leben getanzt, ähnlich wie mit Rumba-, Tango- oder Watussi-Rhythmen in manch anderes mehr oder minder unschuldiges Leben, bei einem dieser grandiosen Bälle, die in den nebligen Tälern der englischen Countryside immer noch eine Illusion trägen Reichtums aufrechterhalten. Als Angela sich nackt im Spiegel betrachtete, erinnerte sie sich an die absurde Jagd durch die Nacht, im offenen italienischen Cabrio auf der Straßenmitte, ohne Rücksicht auf die drängenden Lichter entgegenkommender Wagen, ohne Rücksicht auf die Kälte, ohne Rücksicht auf überhaupt alles. Sie erinnerte sich, wie sie sich in dem Hotel in Maidenhead eintrugen, auch Gyles Drohung, als Mr. und Mrs. Smith zu unterschreiben. »Wage es nur!« hatte sie
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