Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
weil sie nicht zusammen zu Abend essen konnten, aber sie hatte eine wichtigere Verabredung mit dem großen Dobos (»Geschäfte, du verstehst doch, Schatz meines Herzens«). Gleichwohl sagte er, er verstünde, was nicht der Wahrheit entsprach, aber er war nicht der Typ, der dies ausgesprochen hätte.
Er sah sie selten während der nächsten Woche, denn Dobos schien unglaubliche Mengen an Geschäftsbesprechungen zu haben. Zehn Tage später komplizierte sich die Lage zusätzlich, nicht etwa durch eine verhärtete Haltung von seiten Lajos’ oder durch vermehrte Aufmerksamkeiten ihres Geliebten, sondern durch den Umstand, daß sie sich plötzlich in Ferenc Ferensci verliebte, den hohen Tenor, der in der Operette die Rolle des Fürsten spielte. Sie war nicht die Frau, die sich allabendlich Ständchen bringen und küssen ließ, ohne davon ungerührt zu bleiben.
Dobos erbleichte, denn er war erstens sehr prominent und zweitens nicht mehr jung. »Verdammte Undankbarkeit!« schnaubte er, und das Echo seines Cri de cœur brach sich an allen Kaffeehauswänden von Budapest. Lajos fühlte mit ihm.
Eines Abends, bald darauf, sandte der junge und liederliche Fürst Szent-Mihaly einen gewaltigen Blumenstrauß zum Bühneneingang. Diesem folgte am nächsten Abend ein noch größerer. Dann folgte das Unvermeidliche; noch mehr Violinen, ein dazu passender Mond, wieder eine hektische Fahrt durch die Nacht – diesmal in offener Kalesche mit Familienwappen am Schlag und einer Equipe gelangweilter Dragoner, die nebenhergaloppierten – und ein riesiges, knarrendes Bett, in dem Generationen von Szent-Mihalys gestorben waren, geliebt hatten und zur Welt gekommen waren. Ferensci begann in seiner Depression sehr flach zu singen – und schrill in Augenblicken des Zorns. Lajos und Dobos konnten es ihm beide nachfühlen. Nach einer Weile aber wurde Fürst Szent-Mihaly von seiner schrecklichen Mutter ernstlich gemaßregelt und zur Strafe nach Monte Carlo geschickt. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt beschloß Dobos, sich an der Schönheit wieder eines anderen Mädchens zu berauschen, das ihm vorgesungen hatte, und er erklärte der Presse, er habe die Stimme des Jahrhunderts entdeckt. Die doppelte Demütigung war zuviel für Mizzi. In einer Orgie der Zerknirschung beichtete sie Lajos alles, und sie hielten wieder Händchen. Das Leben, sinnierte sie, ist nun mal so. Was sie meinte, war: Das Leben ist wie eine Operette. Die Raffiniertheit der Liebe eines ältlichen Wüstlings, der Witz und das Funkeln seiner schmalzigen Konversation, das Knallen von Champagnerkorken, das von hysterischem Verlangen angeheizte Kichern, während die gewichsten Schnurrbartspitzen eines Fürsten ihre nackte Schulter kitzelten, das Herz brennend nach unverzüglicher Hingabe, durch die Tiefen der Sinnlichkeit geführt vom fiebrigen Schmachten einer schluchzenden Geige – führte all dies zu Erfüllung und Glück? Nein, nein und abermals nein. Wahre Liebe fand sich nach dem Ende des dritten Akts, in Armut, in den fleckigen Gehrock eines geplagten Musiklehrers gehüllt, des lieben Treuen, der schweigend zu ihr gestanden und gelitten hatte, während sie, die flatterhafte, unwiderstehliche Nachtschwärmerin, tief aus dem flitterigen Kelch der Illusionen geschlürft hatte.
Kaum hatte sie dieses profunde Gefühl der Läuterung erfahren, begann sie auch schon, den sprachlosen, unentschlossenen Lajos entschieden langweilig zu finden. Er hatte für den Moment seinen Zweck erfüllt. Sie hatte ihr Geständnis hervorgesprudelt, und er hatte nur unter Tränen gelächelt, als sei eine verlorene Seele in den Schoß der Kirche zurückgekehrt. Ihr Gewissen war wieder rein. Der Budapester Triumph wiederholte sich in Wien, doch mit einem österreichischen Tenor, in den sie sich verliebte, weil es zur Handlung dazugehörte. Sie kaperte auch den berüchtigt modernistischen Komponisten Manfred von Lich, der in einer selbsterfundenen, dreizehnwertigen Tonleiter schrieb und sich damit den unversöhnlichen Haß derer zuzog, die mit religiöser Sucht an einer Leiter von nur zwölf Tönen festhielten. Mit bemitleidenswertem Mangel an Urteilskraft, wie die meisten großen Männer ihn beweisen, wenn sie sich verlieben, befand der ansonsten unbeirrbare Dr. von Lich, daß Mizzi genau das richtige Timbre für seine gefährdete Muse besäße, und schrieb eigens für sie seine fragmentarischen Vier grausamen Lieder, die auf den Gesängen mittelalterlicher Flagellanten beruhten und eingerichtet waren
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