Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
stotterte.
»Weiter oben an der S-t-trecke«, keuchte er. »Was? Sprich deutlich!« schrie der Bahnhofsvorsteher. »Ein Erdrutsch, beim Tunnel – «
»Ein Erdrutsch?«
»Gleich hinter der Kurve, wo die S-s-signale sind!«
»Ein Erdrutsch!« Der Bahnhofsvorsteher war wie vom Donner gerührt.
In missionarischer Ekstase wandte der Junge sich an den Zug: »Hätte der Zug weit-t-terfahren dürfen, dann w-w-wäre er entgleist. Ihr alle wäret t-t-tot!«
Die junge Nonne fiel auf die Knie. »Un miracolo!« kreischte sie.
Der Bahnhofsvorsteher stand da, bleich wie der Tod, gedemütigt, meuchlings getroffen.
»Würden Sie das übersetzen bitte?« fragte Mr. Rosencrantz.
Wir fuhren im Bus über den Simplonpaß und dann mit den Schweizer Bundesbahnen unserer verschiedenen Wege. Zwei Tage später, in Genf, fiel mir zufällig eine italienische Zeitung in die Hand. Die Schlagzeile lautete: »Geistesgegenwärtiger Bahnhofsvorsteher rettet internationalen Zug vor Katastrophe.« Ich las den Artikel. Er war in Form eines Interviews mit Cavalieri, Ferruccio, Bahnhofsvorsteher von Mine di Trasquera, gehalten.
»Ja«, sagte der Bahnhofsvorsteher zu dem Journalisten, »ich bin seit sechsunddreißig Jahren im Dienst der Staatlichen Eisenbahnen, unterbrochen natürlich durch sieben Jahre in einem faschistischen Gefängnis. Man kommt nicht umhin, Erfahrung zählt in jedem Beruf. Ich wußte, daß der nahende Winter viele Gefahren mit sich bringt, vor allem in Bergregionen. Erst vor zwei Tagen hatte ich zu Finzi, Cianni, meinem Assistenten, gesagt: >Ich würde mich nicht wundern, wenn wir eines schönen Morgens einen Erdrutsch vor diesem Tunnel hätten, dort, wo die Signale stehen. < Ich weiß nicht, warum, aber als der Expreß gestern einfuhr, zögerte ich, ihn weiterfahren zu lassen. Oh, sie versuchten, mich zu überreden. Sagten, sie wären durch irgendeinen Streik unten im Süden aufgehalten worden. Brachten alle möglichen Gründe vor, um mich zu bewegen, den Zug fahren zu lassen, aber ich blieb unerbittlich.«
»Der Kardinal-Erzbischof von Mailand äußerte die Vermutung, es sei die göttliche Vorsehung, die Sie so hartnäckig bei Ihrer Weigerung bleiben ließ«, warf der Journalist ein. »Ich bin ein zu demütiger Mann, um die Wahrheit zu ergründen«, fuhr Cavalieri fort, »aber ich darf wohl behaupten, daß, während ich mit mir haderte, ob ich das Signal umstellen sollte oder nicht, eine Stimme in meinem Innern immer wieder sagte: >Nein.<«
»Einfach >nein«
»Nein. >Du sollst nicht lassen den Zug durchfahren.«« Ich wunderte mich über die außerordentliche Loyalität des Assistenten zu seinem Chef, bis ich unten auf der Titelseite ein Photo sah. Er und Cavalieri wurden beide von Graf Parri-Ponti beglückwünscht, dem Bevollmächtigten der Staatlichen Eisenbahnen, dem Schwager der Herzogin von Calapiccola, und beide strahlten vor Freude. Ordensverleihungen würden zweifellos folgen, sagte die Bildunterschrift, und die Versetzung an einen größeren Bahnhof.
Der Leitartikel der Zeitung übertrug das Thema der Treue des Menschen zu seiner Pflicht ins Mystische und stellte die brennende Gewissensfrage Italiens: »Wie viele solche Menschen gibt es in unserem Land, an entlegenen Orten verborgen, nur um durch eine Laune des Schicksals als das entdeckt zu werden, was sie sind: schlichte, vertrauensvolle Helden mit der Fähigkeit, die Stimme Gottes zu verstehen, wenn sie sie hören? Es ist an der Zeit, daß unsere Politiker die einfache Wahrheit erkennen, die sich mit kristallener Klarheit aus einem solchen Fall ergibt. Italiener zu sein, heißt zu glauben. Das ist die Stärke des Ferruccio Cavalieri. Das ist auch unsere Stärke.«
O milde lächelnder Gott Italiens, Du weißt: Während anderswo vielleicht Geld die Menschen korrumpiert, oder Macht, oder etwas anderes aus Myriaden von Lastern, die der Mensch wählen mag zu seiner irdischen Lust und seinem endlichen Verhängnis, in Deinem Land liegen die Dinge nicht so einfach. Alexander VI. der Borgia-Papst, war nicht der beste unter den geistlichen Führern – manche behaupten gar, er sei ein Ausbund des Lasters gewesen. Und dennoch: Um wieviel ungehemmt lasterhafter hätte er sein können, wäre er nicht Papst gewesen! In seinem Fall, wie im Fall des Ferruccio Cavalieri, Bahnhofsvorsteher von Mine di Trasquera, korrumpiert die Tugend den Menschen. Nie wieder kann der arme Kerl mit der Härte und Klarheit seines Herzens eine kategorische Entscheidung treffen, nie wieder
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