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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Kreutzer
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sie sei nicht
mehr am Leben. Man habe sie vielleicht irgendwo hingebracht, wo sie ein
komplett anderes Leben führen müsse. Sie sei nicht der erste Mensch, dem das
passiere. Auf der anderen Seite könne es auch sein, dass sie nicht mehr lebe.
Konrad hatte mich davon überzeugt, dass vielleicht später einmal eine
Möglichkeit bestünde, das herauszufinden. Ich begann mehr und mehr, die
Wahrscheinlichkeit ihres Todes zumindest zu akzeptieren, um nicht an der
Hoffnung auf ihr Überleben zu verzweifeln.
    Konrad saß fünf
Reihen hinter mir, trug einen buschigen Schnurrbart und eine einfache braune
Hornbrille. Sein heller Anzug war abgetragen, die braunen Schuhe abgewetzt und
schmutzig, und sein ungewaschenes, schwarzgraues zottiges Haar sowie ein
Stoppelbart ließen ihn abstoßend erscheinen. Er hieß jetzt Hans Günter Naumann,
stammte aus Hamburg und las die Überschriften in der „Bild“.
    Ich hieß Heinrich
Brohler, war blond und vollbärtig, trug Jeans, ein blaues Hemd, eine Nickelbrille,
Turnschuhe, hatte Nichtraucher gebucht und las „Die Zeit“.
    Obwohl Konrad für
unsere Tarnung bestens gesorgt und es für nötig befunden hatte, dass wir uns
trennten, hatte er mich seit dem Flughafen in Luxemburg keinen Moment lang aus
den Augen gelassen. Er hatte jeden Schritt überwacht, den ich tat, jeden
Handgriff, den ich machte. Er war stets irgendwo hinter mir. Manchmal hatte ich
geglaubt, er hätte mich verloren, aber irgendwann war er plötzlich wieder da
gewesen, und ich hatte erneut in seinen Augenwinkeln geklebt. Ich hatte seine
Überlegenheit auf Schritt und Tritt gespürt. Wäre es nicht so ernst gewesen,
ich hätte lachen müssen angesichts unserer Maskerade.
    Konrad hatte die
beiden Ausweise ausgepackt und erklärt, dass sie zu seiner Tarnung gehörten, er
besitze drei deutsche, zwei amerikanische und einen russischen. Die Masken
seien ein Teil seines Standardrepertoires, hatte er gewitzelt, er habe als Kind
einmal Clown werden wollen. Und dass ich zufällig in sein Gesicht hineinpasse,
sei jetzt doch überaus hilfreich.
    Das Flugzeug lag
nun wie ein Vogel am Himmel und hämmerte mit seinen Propellern Löcher in die
Luft. Das Dröhnen erwirkte eine bleierne Monotonie, die sich in meinem Kopf
einnistete. Um mich herum saßen ausschließlich junge Leute; sie alberten und
freuten sich auf ihren Urlaub auf der Insel, deren Namen Konrad mir erst in
Athen verraten hatte.
    Ich erinnerte mich
an einen Streit mit meinem Vater vor ein paar Jahren. Er hatte die These
aufgestellt, viele dieser Rucksack-Urlauber seien inkonsequent. In Deutschland
fühlten sie sich unwohl und flöhen für wenige Wochen in eine verklärte Welt,
auf der Suche nach Glück, hatte er geklagt. Doch auch diese Welt bestehe nicht
nur aus feurigem Wein sondern auch aus fauligem Wasser, aus strahlender
Romantik und aus dumpfer Brutalität, aus fröhlichem Tanz und aus
hartnäckiger Grausamkeit, aus weiß getünchten Kapellen und aus
armseligen Hütten, aus erhabenen Göttern und aus verprügelten Frauen,
aus blühenden Gärten und aus geschundenen Hunden, kurz: aus Liebe und aus Leid. Sie suchten aber nur die Liebe und übersähen gerne das Leid. Sie
schimpften über ihr eigenes Land, aber sie exportierten die deutschen
Gewohnheiten, sie respektierten das Gastland doch allenfalls zwischen Taverne
und Strand, was aber im Hinterland geschehe, davon wollten die meisten nichts
wissen. Und so sei der urlaubsbegeisterte Heimkehrer doch allenfalls ein
Selbstbetrüger, der versuche, seine heile Welt dort zu errichten, wo man seine
Sprache nicht spreche und wo man den Problemen der Umgebung also nicht lauschen
müsse.
    Ich konnte und
wollte ihm damals nicht folgen. Heute schon, doch jetzt beneidete ich diese
Menschen um ihre Leichtigkeit. Angesichts dessen wurde mir erneut die Schwere
meiner Lage bewusst, und ich hätte in diesem Moment gerne mit jedem von ihnen
getauscht.
    Das Geheimnis, das
ich zu erfahren trachtete, nagte an mir: Ich wollte endlich wissen, was
geschehen war. Ich saß in einer Zeitmaschine in die Vergangenheit!
    Das Flugzeug setzte
kaum merklich zu einer Linkskurve an; ich sah hinunter auf das Meer, aus dem
die Inseln der Kykladen wie die Ballen aus einer Bärentatze herausragten:
Milos, Paros, Naxos und Amorgos. Dann überflogen wir die riesige Caldera von
Santorin mit ihren weißen Häuschen, die den Kraterrand umrankten wie eine
Muschelkette den Hals einer Polynesierin. Nach einer Zeit, die ich an Anna
dachte, sah ich die lang

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