Gott wuerfelt doch 1
ich zum ersten Mal, dass ihn keine direkte Schuld traf.
„Ich weiß nicht, ob sie noch lebt.“
Ich ließ ihn los,
ging zurück zum Tisch, nahm auf meinem Stuhl Platz, zog den Korken aus der
Flasche und goss die Becher voll. „Setz dich zu mir.“
Konrad kam langsam
näher. Er misstraute meinem plötzlichen Friedensangebot und zog den Stuhl
zurück. Wir sahen uns an wie zwei rivalisierende Wölfe, die um ein erlegtes
Schaf streichen, wissend, dass sie aufeinander angewiesen sind.
„Konrad, was haben
Vater und Mutter mit der ganzen Geschichte zu schaffen?“
„Ich bin mir nicht
sicher. Eines steht fest: Ihre Existenz an sich war der Grund, warum alles so
kam. Darüber aber müssen wir noch Einiges herausfinden. Es muss etwas geben in
ihrer Vergangenheit, das der Stasi gereicht hat, sich auf dieses absurd
scheinende Spiel einzulassen. Ich weiß allerdings nicht, was dahintersteckt.“
In ihrer
Vergangenheit? Was konnte das nur sein? Mir war nicht klar, worauf Konrad
hinauswollte. Das Geheimnis, das Konrad andeutete, zerrte an meinen Nerven.
„Konrad, kannst du dir vielleicht angewöhnen, dich etwas klarer auszudrücken?
Du sprichst - seit ich dir begegnet bin – allzu gerne in Rätseln. Hast Du wohl
von unserem Vater.“ Ich hatte eine leicht geduckte Haltung angenommen und
redete mit den Händen. „Es ist ganz einfach anstrengend, dir zu folgen und dir
jede Einzelheit aus der Nase ziehen zu müssen.“ Meine Gewohnheit, ruhig zu
argumentieren, begann sich zu verflüchtigen. „Konrad“, schrie ich, „hilf mir!“
Konrad nickte. „In
Ordnung, ich werde es versuchen.“ Er korrigierte seinen Sitz und legte die
Hände auf den Tisch. „Wir brauchen einen bestimmten Kontakt. Zu einem Mann, den
ich kenne. Er ist ehemaliger Agent der Stasi und hat sich abgesetzt. Er hat mir
all die Dinge beigebracht, die zwar überlebenswichtig, aber in keinem
Gesetzbuch der Welt geregelt sind. Er kann uns sicherlich weiterhelfen.“
„Verdammt, was
willst du denn von ihm? Was?“, fragte ich voller Ungeduld und rüttelte am
Tisch, dass das Geschirr klapperte.
„Ich will meine
ganze Vergangenheit erfahren“, antwortete er. „Ich will wissen, warum ich das
alles erdulden musste, ich will wissen, warum dir so viel Schmerz zugefügt
werden musste, warum man mich meiner Mutter stahl, was unser Vater mit all dem
zu tun hat.“
Wir starrten uns
über den Tisch hinweg in die wässrigen Augen, und ich begann zu begreifen, was
er vorhatte. Egal, was ich davon hielt, es gab nur eine Lösung: Wir mussten
handeln. Wir waren zusammengeführt worden, ob gelenkt oder ungelenkt. Was immer
ich in den letzten Wochen durchgemacht hatte - Konrad war bereits in seiner
Jugend derart missbraucht worden, dass ich ihm keine Vorwürfe machen durfte.
Unser Leben würde nie mehr so wie vor unserer Begegnung sein können. Wir brauchten
jetzt Klarheit: Klarheit über uns, Klarheit über unsere Eltern, Klarheit über
die Vergangenheit. Denn was auch geschehen würde, welche Geschehnisse wir
aufspüren würden, es würde die Wahrheit sein. Und vor ihr konnten wir uns nicht
verstecken, nicht wir, denn sie würde uns ab jetzt jeden Tag ins Gesicht
lachen, sobald wir uns gegenseitig oder auch uns selbst im Spiegel
betrachteten. Diese Erkenntnis kämpfte gegen das Misstrauen, das ich seit
unserer Begegnung spürte.
Konrad fragte
schließlich: „Wirst du mit mir gehen?“
„Wo finden wir
diesen Mann?“
Konrad schien
erleichtert. „Gut. Wir finden ihn in Griechenland auf einer Insel. Er hat sich
dort zur Ruhe gesetzt.“
„Was macht er dort?
War er nicht Agent, wie du sagtest?“, fragte ich erstaunt.
„Ja, gerade
deshalb. Jeder, der mal im Ausland gearbeitete hat, hat sich ein oder mehrere
Rettungsboote geschaffen.“
Ich sah Konrad
fragend an: „Rettungsboote?“
„Ja. Auf der einen
Seite steht die Loyalität zu deinem Staat. Auf der anderen Seite geht es aber
um deine eigene Haut. Egal, ob du Russe, Amerikaner, Deutscher oder Israeli
bist. In kaum einer Branche gibt es so viel Verrat und Betrug wie in dieser.
Ehrenkodex und ruhmvoller Ausstieg sind längst zu Intrige und Flucht geworden.
Deshalb braucht jeder einen geheimen Ort, wo er zur Not für den Rest seines
Lebens untertauchen kann.“
„Und du weißt,
welcher Ort das ist?“, wollte ich ungläubig wissen.
„Ja, als einziger.
Es war ein Fehler, ihn mir zu nennen, aber kein Mensch kommt auf die Dauer ohne
einen Vertrauten aus. Auch er nicht. Er hat mich als seinen Sohn
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