Gott wuerfelt doch 1
selbst, denn
ich empfand jetzt genau dasselbe wie er: Bruderliebe.
Um mein Gefühl zu
überspielen, sagte ich rasch: „Das wäre ja ohnehin idiotisch gewesen. Vater und
Mutter hätten doch sofort gemerkt, dass du nicht ich bist! Es gibt zu viele
Dinge, die dich von mir unterscheiden müssen. Ich kann es nicht glauben! Diese
Geschichte ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe!“
„Walter, sei
ehrlich: Haben deine Eltern dich in den letzten Wochen gekannt? Glaubst du
nicht, dass du dich sehr verändert hast, glaubst du nicht, dass es für mich
viel leichter gewesen wäre, dich jetzt zu ersetzen, wo deine Eltern sich nur
noch danach gesehnt haben, dass du endlich überhaupt wieder mit jemand redest
... nach all dem, was passiert ist?“ Sein Blick war hart, und ich spürte den
Satz, als sei ein Messer in meinen Schlund gefahren. Mein Magen krampfte sich
zusammen, und mir wurde erneut schlecht. Ich legte den Löffel aus der Hand.
Mein Gesicht verfiel. Doch gleichzeitig begriff ich, worauf er hinauswollte.
„Du meinst Anna“,
stellte ich stockend fest.
„Ja“, bestätigte er
leise. „Sie haben Anna verschwinden lassen, um dich vollkommen aus der Bahn zu
werfen“, sagte Konrad ruhig, und ich hörte vor lauter Wut nicht sein ehrliches
Bedauern heraus. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich aufsprang, ohne
den Schmerz in meinem Bein zu spüren, und dass meine Hände seine Gurgel
packten. Dann traf mich ein Schlag am Hals, perfekt und ohne Schmerz.
Anschließend war alles still.
*
Als ich aufwachte,
lag ich wieder auf dem Bett. Konrad saß neben mir auf einem Stuhl und las in
einer Zeitung. Er faltete die Blätter zusammen, beobachtete mich in meiner
Bitterkeit und sagte schließlich: „Sie haben mir gegenüber nie angedeutet, dass
sie deine Freundin beseitigen wollten. Ich schwöre es dir! Dass sie dich erst
aus der Fassung bringen mussten, damit ich an deine Stelle treten könnte, war
klar, denn deine Eltern würden die größte Hürde sein, auch das war allen klar.
Sie mussten also vom normalen Leben so stark abgelenkt und du dermaßen durch
den Wind sein, dass sie diesen Wechsel nicht bemerken würden. Ich habe das
sogar gefordert. Sie haben mir etwas anderes vorgegaukelt, nämlich dich durchs
Examen fallen zu lassen und danach dein Auto zu verbrennen. Aber dass sie so
weit gehen würden, daran habe ich nie gedacht. Ich war ein Idiot, und es tut
mir aufrichtig Leid.“
„Was haben diese
Schweine mit Anna gemacht?“, fragte ich flehend.
„Ich schwöre dir,
ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht“, antwortete Konrad, und ich
glaubte, dass er ehrlich zu mir war.
Ich setzte mich auf
und massierte mit der Linken meinen Nacken. Dann legte ich den Kopf zurück und
ließ ihn, meine Augen an die Zimmerdecke fixiert, rotieren. „Schon gut“,
bemerkte ich verächtlich, „den Dummen trifft natürlich keine Schuld.“
Konrad reagierte
verhalten. „Gelegentlich werden Menschen ganz einfach irgendwo hingebracht,
denn es ist nicht immer der beste Weg, jemanden umzubringen. Das macht
eigentlich kein Profi gern, nur, wenn es absolut nötig ist; es ist ein anderes
Denkmuster, Walter, so denken sie eben.“
„Wie denken sie?“,
fuhr ich ihn an.
„Eher ...
chirurgisch genau. Sie sind Polizisten, keine Mörder.“ Konrad klang ein wenig
hilflos.
„Du kannst mich
also, wenn du mich nicht mehr brauchst, jederzeit beseitigen. Nur zu! Wenn dir
was nicht passt, bitte.“ Ich machte eine einladende Geste und bot ihm meinen
Hals.
Konrad stand auf
und schüttelte langsam den Kopf. Er erkannte, dass es kaum einen Sinn hatte,
mit mir zu reden. „Wenn man eine indirekte Zielperson verschwinden lassen will,
so stellt man sie in der DDR oft vor die Wahl: entweder Tod oder Ausreisen für
immer. Dabei werden Länder vorgegeben, die dem Regime treu ergeben oder
zumindest äußerst kooperativ sind.“
„Es ist eigentlich
nicht mein Problem, dass du in den Dreck gefallen bist“, sagte ich frustriert.
„Aber dass du mich mitgerissen hast, das ist mein Problem. Ich habe Anna
geliebt. Ihr habt mir den Menschen genommen, der mir am wertvollsten war!“ Ich
sprang auf und stand jetzt direkt vor ihm. „Also, gib sie mir zurück!“, schrie
ich ihn an und rüttelte an seinen Schultern. „Wo ist Anna?“ Tränen standen in
meinen Augen. Konrad sah mich leidvoll an und senkte sein Gesicht. „Das kann
ich nicht“, sprach er leise mit gehemmter Stimme und schüttelte den Kopf. In
diesem Moment spürte
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