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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Kreutzer
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übertragen,
die schönen wie die hässlichen. Wenn ich dich spielen würde, sollte ich an die
Erlebnisse meiner eigenen Kindheit denken und sie auf deine Erlebnisse
übertragen, damit sie echt und begeisternd wirkten, wenn ich sie erzählen
würde.“
    Ich zog die Brauen
zusammen. „Das klingt aber alles sehr theoretisch. Wie kann man denn so was
verinnerlichen?“
    „Alles sollte immer
menschlich wirken, und das geht nun mal am besten mit der Projektionsmethode“,
schilderte er. „So was kann man tatsächlich trainieren.“ Er fixierte meinen
Haaransatz und nickte unterstützend. „Tagein tagaus musste ich das alles üben.“
Dann wendete er seine Augen wieder dem kargen Land vor uns zu. „Sie brachten
mir bei, zu jeder Tageszeit alles hellwach zu beobachten. Jede auch noch so
kleine Veränderung stelle eine Änderung der Verhältnisse dar, impften sie mir
ein. Der Inhalt eines Kühlschranks sei ein Steckbrief desjenigen, der ihn
befüllt habe; nicht nur die Tatsache, dass drei Joghurtbecher dort stehen sei
wichtig, sondern auch die Marke, die Fruchtsorte und ihre Anordnung. Der Inhalt
eines Abfalleimers sage mehr über die Ereignisse, die in einer Wohnung
stattgefunden hätten, als alles andere; das Bad sei ein perfekter Ort, um
angenehme und unangenehme Gewohnheiten von Menschen zu entschlüsseln. Sie haben
mich trainiert, gedrillt und gehetzt.“
    Es tat mir weh, ihn
so reden zu hören, aber ich wusste jetzt, warum er nie zur Ruhe kommen konnte.
    „Und jetzt?“,
fragte ich ihn ziemlich frustriert. „Wie kommen wir da bloß wieder raus?“,
stellte ich eher fest, als dass ich fragte.
    „Und jetzt ... ?
Gute Frage, ich werde mir was einfallen lassen“, sagte Konrad und ging
seelenruhig einen Weg hinab.
    Was hatte er nur
vor, wie wollte er uns herausholen? Ich spürte Unruhe: nicht meine eigene, ich
spürte seine. Ich musste versuchen, in seine Haut zu schlüpfen (ich dachte in
diesem Moment wirklich daran, denn sein Körper sah ja genauso aus wie meiner,
und ich hätte theoretisch genau in seine Haut hineingepasst. Oh Gott, wie
absurd! ... und wie wahr.)
    Konrad ging weiter
in Richtung Meer. Ich sah ihm nach. Nein, dachte ich, ich war nicht er! Hatte
unsere Erziehung unsere Persönlichkeit mehr gefärbt, als unsere Gene es taten?
Oder war es nur das dunkle Licht des Moments, das meine Angst hervorrief? Ich
war im aufgeklärten Geiste gebildet, tolerant und logisch denkend, aber war das
der einzige Spiegel der Welt, der möglich war? Oder gab es mehrere Wahrheiten,
wie meine Mutter mir mal gesagt hatte, diese weise Frau, die ich jetzt mehr
denn je verstand? Vor mir stand mein Zwillingsbruder, biologisch identisch mit
mir, im Geiste aber verschieden. Wäre ich genauso verbittert wie er, wenn ich
so aufgewachsen wäre wie er? Ich empfand seltsame Qual. Nicht wegen mir, nein,
wegen ihm. Mich quälte in diesem Augenblick die Erkenntnis, dass er verloren
schien wegen mir. Mein zweites Ich schien sich gegen mich stellen zu müssen.
Doch gerade in den Momenten der Gegensätze, der Konflikte und Unterschiede
wurde unsere untrennbare Basis offensichtlich: die schicksalhafte Zugehörigkeit
und die nicht mehr wegzudenkende Abhängigkeit, die uns verbanden. Trotz allem -
ich hatte das seltsame Gefühl, dass Konrad und ich mehr und mehr zu
verschmelzen begannen.
    Das waren damals
meine Gedanken, und jetzt schreibe ich sie auf. An das Leid, das ich tagein
tagaus erlebe, habe ich mich längst gewöhnt, und deshalb sitze ich ihm ruhig
gegenüber und empfinde es nicht mehr als solches, sondern eher als Unglück. Das
Licht flackert in meiner Zelle, das bedeutet, es wird gleich gelöscht, und ich
möchte schreien. Aber was würde das nützen? Nichts, denn der Gerechtigkeit wäre
damit kein Dienst erwiesen. Gerechtigkeit gibt es nur noch in meinem Kopf. Ja,
ich kenne sie, zumindest jene Gerechtigkeit, die meinen Fall betrifft. Ich gebe
zu, dass ich etwas Anmaßendes in meine Geschichte hineinlege. Mir ist auch
klar, dass niemand Notiz von meinen Aufzeichnungen nehmen wird. Ich bin zum
Leben verurteilt. Keine Henkersmahlzeit, kein Ende. Wie wäre es in Amerika? Es
würden mich der Stuhl, die Spritze oder das Gas erwarten. Das wäre zwar kein
Trost, aber es wäre eine klare Zukunft. Ich jedoch muss leben, und um das zu
ertragen, muss ich schreiben.
    *
    Konrad war den Weg
zurückgekommen, hatte sich wieder gefangen und murmelte etwas von einer
Entschuldigung. Ohne weiter darüber reden zu wollen, stieg er wieder ins Auto
ein.

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