Gottes blutiger Himmel
gegen sie, ich wollte nur nicht, dass sie einen Platz in meiner Vergangenheit einnahm und mich in diese zurückreißen konnte. Aber ich konnte mich ihren scharfen Blicken nicht entziehen, die mich aus der Distanz mustertenund mich bedauerten. Was an mir aber gab Anlass für Bedauern?
»Bist du dir sicher, dass wir heiraten wollten?«, fragte ich sie.
»Bring mich nicht dazu, dich zu bemitleiden.«
»Was verbindet uns denn?«
»Alles und nichts.«
Sie überließ die Entscheidung mir.
In Wirklichkeit war ich gar nicht in der Lage, etwas zu entscheiden. Ich war, so empfand ich es, von einem Gedächtnis gefesselt, das mir nicht zugänglich war, das mich betrog und mir mal dies, mal jenes verbarg oder offenbarte. Mein Erinnerungsvermögen spiegelte mir viel Irriges vor und gewährte mir nur wenig Verlässliches. Tatsächlich sah ich mich vor und stellte mich meinen Erinnerungen mit aller Kraft entgegen. Ich wollte niemandem einen Platz in meinem Leben einräumen. Am liebsten hätte ich alle Menschen aus ihm verbannt, ohne dass es mir ein schlechtes Gewissen bereitet hätte.
Aber meine Mitmenschen beobachteten mich unermüdlich. Da war ein Freund, der mich hartnäckig und mitunter zornig ermunterte, mich meiner Vergangenheit zu stellen, eine Exfrau, die jemanden brauchte, der sie tröstete, und die ihre Tränen zurückhielt, eine Tochter, die mich ratlos betrachtete, und eine Partnerin, deren Geduld wohl bald am Ende wäre. Die erwartungsvolle Haltung all dieser Menschen belastete mich; ich wusste, dass ich nicht endlos schweigen durfte, ich musste mich bemühen, obwohl es mir zuwider war. Einerseits wollte ich vordringen in das, was mir mein Gedächtnis versagte, aber zugleich wünschte ich, es möge mir nicht gelingen. Ich gefiel mir selbst nicht. Wenn ich mich betrachtete, sah ich das Jammerbild einer billigen Tragödie,der undurchsichtigen Tragödie eines apathischen und ängstlichen Mannes, der sein Gedächtnis verloren und nicht den Mut hatte, es wiederzugewinnen. Wohin sollte dieser alberne Zustand führen?
Ich wusste nicht recht, was ich den Leuten angetan hatte. Hatte ich meine Erinnerungen versehentlich verloren, oder hatte ich sie selbst außer Kraft gesetzt, weil ich sie nicht ertrug? Wenn dem so war, dann hatte ich willentlich, aber nicht vorsätzlich gehandelt. Ich würde meine Erinnerungen nicht überwinden oder abstreifen können, und das war auch nicht mein Ziel. Ich wollte nur wissen, was alle diese um mich besorgten Personen umtrieb, die mich so wohltätig umhegten und meine Torheiten ertrugen, und ganz besonders, was diese Frau wollte, deren banges Abwarten mich belastete.
15
Die Vorhänge ließen den Blick auf einen finsteren Himmel frei. Es wurde Herbst, Wolken zogen vorüber und erste Regenschauer fielen. Die Düsterkeit regte eher zu depressiver Stimmung an als zum Schlafen. So also sah mein Ende aus: Ich lag auf dem Bett, halb krank, halb verwundet, mein Verstand halb getrübt, und ich war allein. Und über meine Einsamkeit wachte eine traurige Frau, die fast meine zweite Ehefrau geworden wäre, wenn nicht …, wenn nicht was? Ich war der Leere und der Vereinsamung überdrüssig, und ich war es leid, mir Szenen zu vergegenwärtigen, die vielleicht stattgefunden hatten, vielleicht auch nicht, es war mir sogar einerlei, ob sie passiert waren, aber ich wollte nun wissen, was ich mit ihnen zu tun hatte.
Ich sagte zu Sana: »Ich bin drauf und dran zu ersticken. Ich möchte endlich erfahren, was mit mir passiert ist.Ich weiß, dass ich dir viel verdanke. Ich weiß nur nicht, was.«
Hassan schaltete sich ein: »Wenn du willst, dass wir dir helfen, dann hilf du uns auch ein wenig.«
»Ich weiß zwar nicht, wie, aber ich werde es versuchen.«
»Bevor du abgereist bist, hattest du Sana versprochen, ihr E-Mails zu schicken. Du hast dich auch daran gehalten, hast Sana immer versichert, dass es dir gutgeht, dich aber ansonsten kurz gefasst und nichts Außergewöhnliches geschrieben. Vieles in deinen Mails blieb unklar.«
Hassan hatte mich neugierig gemacht. Könnte ich diese E-Mails lesen, würde ich mich vielleicht wieder erinnern. Sana brachte sie mir, ausgedruckt und chronologisch geordnet. Sie legte mir die Blätter vor, als würde sie mir damit beweisen, wer sie war, dass wir eine gemeinsame Vergangenheit hatten und dass ich ihr vollständig vertraut hatte. »Ich war die Einzige, der du geschrieben hast«, betonte sie.
Ich überflog die Blätter. Meine E-Mails waren tatsächlich sehr kurz,
Weitere Kostenlose Bücher