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Gottes blutiger Himmel

Gottes blutiger Himmel

Titel: Gottes blutiger Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fawwaz Hahhad
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dem aufgeblähte Körper zu verwesen begannen. Sie waren aufs Geratewohl nebeneinandergelegt worden, so dass sie sich beinahe umarmten:Schiiten, Sunniten, Christen, Baathisten, Atheisten. Im Tod waren sie alle gleich.
    Ich erkämpfte mir einen Platz an einem mit Eisenstäben vergitterten Fenster, um das sich Leute versammelt hatten, um Fotos zu betrachten, die ein müde aussehender Angestellter über eine Computermattscheibe scrollte. Die meisten abgebildeten Opfer waren zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Jahre alt. Ein Jugendlicher neben mir schrie und schlug sich auf die Stirn, als er ein Bild seines Bruders mit ausgestochenen Augen erblickte. Er sprang wie von Sinnen auf und ab, schlug sich ins Gesicht und schrie: »Hamid, wehe mir!« Dann kauerte er sich an die Mauer, weinte und schlug sich mit den Fäusten an die Brust. »Räche ihn, statt um ihn zu weinen!«, tadelte ihn ein anderer.
    Im Wartebereich unterhielten sich junge Männer darüber, wie sie verhindern könnten, dass Milizen ihre Leichname unkenntlich machten. Sie sprachen davon, dass sie vorhatten, sich ihren Namen oder die Telefonnummer ihrer Angehörigen eintätowieren zu lassen, um identifizierbar zu sein, falls man sie tötete, und nicht in einem anonymen Grab zu enden. Währenddessen waren Männer damit beschäftigt, Leichen aus dem Kühlhaus zu entfernen, um Platz zu schaffen. Nicht identifizierbare Leichname wurden nicht lange aufbewahrt; man brauchte Platz für neue Tote, die am nächsten Morgen gebracht würden. Sie bekamen Nummern und wurden in grüne Säcke gesteckt, dann wurden sie auf einem großen Lastwagen zum Friedhof von Nadschaf gebracht. Ein Hausmeister gab die Leichname heraus, nachdem er sie je nach der Art ihrer Ermordung oder ihrer Entstellung sortiert hatte. Oder nach dem Ort ihres Todes: die Opfer der Autobombe, die im verlassenen Kia Gefundenen, die aus Abu Ghuraib …
    Ein kleiner, dicker Mann mit großem Kopf nahm die Toten in Empfang und hob sie auf den Laster, wo sie ein Breitschultriger in der Hocke annahm und nebeneinander oder aufeinanderlegte. Einmal fiel dem Dicken eine Hand herab, und er schob sie mit dem Fuß beiseite, während er die Leiche auf die Ladefläche hob. Dann bückte er sich, hob die Hand auf und warf sie aufs Auto.
    Freiwillige Vertreter der sunnitischen und der schiitischen Konfession waren zugegen, um den Abtransport und die Bestattung der Leichen zu begleiten. Sie erhofften sich einen Gotteslohn dafür, obwohl sie nicht wussten, welchen Glaubens die Toten waren. Sie würden in Nadschaf auf einem Gräberfeld für Unbekannte beigesetzt, wo alle Gräber gleich aussahen und nur Nummern auf Lehmstelen trugen, bis ihre Angehörigen sie vielleicht einmal ausfindig machen würden.
    Ob sie nun die gesuchten Leichen fanden oder nicht, nichts kann eine Mutter ihren Sohn vergessen machen, und niemand kann einen Mord am eigenen Bruder verwinden. Aber was ihnen das Herz brach, war die Erbarmungslosigkeit, mit der ihre Lieben behandelt worden waren, und trösten konnte diejenigen, die ihre Toten nicht fanden, nur, dass ein schlimmeres, ein unverzeihliches Unheil, das hier im Leichenhaus sichtbar wurde, ihr trauriges Schicksal übertraf: Dass man Toten den Kopf abgeschnitten oder Löcher hineingebohrt hatte, dass man Gesichter verstümmelt hatte, dass man einem jungen Mann den Kopf in den Bauch gesteckt oder einem Mädchen, die Augen herausgerissen und in die Handflächen gelegt hatte. Die Verstümmelung von Leichen war zu einer Disziplin geworden, in der die Todesschwadronen sich gegenseitig zu übertrumpfen trachteten.
Die sechste E-Mail
    Ich komme gerade von einer grausigen Rundfahrt durch Krankenhäuser zurück. Das Schlimmste war das Leichenhaus. Ich habe Samer gesucht.
    Ich werde Dir nicht schreiben, was ich gesehen habe. Einen gewöhnlichen Tod zu sterben ist hier eine Gnade, die nur wenigen zuteilwird. Frag mich nicht, warum ich diese Tour nicht abgebrochen habe. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, wie wahnsinnig jemand sein muss, um solch schreckliche Taten zu begehen. Menschliche Grausamkeit kennt keine Grenzen.
    Ich musste diese Runde wohl machen, um mich selbst zu bestrafen. Und um zu sehen, inwieweit ich mitschuldig bin an dem, was hier passiert.
    Ich dankte Gott dafür, dass niemand Samer auf dem Bild wiedererkannt hat. Trotzdem stellte ich mir vor, was er alles anrichten könnte und dass er vielleicht Menschen so zurichtet wie jene, die ich heute sah.
    Immer dann, wenn ich mich von meinem

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