Gottes Gehirn
Blake-Konferenz teilgenommen hatten. Als er ungefähr die Hälfte gelesen hatte, ging er hinunter in den Keller, holte sich eine zweite Flasche Rotwein und las weiter und weiter und weiter, bis er nicht mehr konnte. Zweiunddreißig Dossiers – und keinen Schritt vorangekommen. Nur müde war er. Und betrunken.
Als er aufwachte, hatte er rasende Kopfschmerzen. Zwei Flaschen waren einfach zu viel. Was er brauchte, war Aspirin, am besten für jede Flasche eins. Er stand auf, schlurfte ins Bad, warf zwei Brausetabletten in ein Glas mit Wasser und wartete darauf, dass sie sich auflösten. Nun kommt schon. Es sprudelte und schäumte, wühlte das Wasser auf und beruhigte sich wieder. Der Rest schwamm sichelförmig, weißlich oben. Runter damit. Und wieder warten. Wenn sie wirkten, könnte er vielleicht wieder einschlafen. Es war zwanzig vor sechs. Viel zu früh, um aufzustehen. Trotzdem beschloss er, sich einen Kaffee zu machen.
Während er die Maschine in Gang setzte, versuchte er sich zu erinnern, was er in der Nacht geträumt hatte, aber er kam nicht mehr drauf. Als der Kaffee durch war, nahm er die Kanne mit ins Wohnzimmer, schenkte sich eine Tasse ein und zog die Vorhänge zurück.
Da war er: der See. Milchigweiß lag er da. Dunst lag über dem Wasser. Der Tag kündigte sich an. Die Vögel hatten ihren Klangteppich schon ausgebreitet. Er liebte diese einzigartigen Morgenstunden am still daliegenden See. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Das Aspirin begann zu wirken.
Die Akte lag immer noch auf dem Tisch. Mehr als zwei Dutzend Dossiers und keine Erkenntnis, keine Antwort auf die Fragen, die er sich gestern Abend immer wieder gestellt hatte. Vielleicht waren es die falschen gewesen?
Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne, rasierte sich und ging unter die Dusche. Als ihm das warme Wasser über den Kopf lief, fiel ihm auf einmal ein, welche Fragen er sich noch nicht gestellt hatte: Was war eigentlich aus den Teilnehmern der Konferenz geworden? Wie viele von ihnen lebten noch? Wie viele waren tot? Gab es noch andere, die ermordet wurden?
Ein paar Minuten später saß er am großen Tisch und ging die Dossiers noch einmal durch. Neun der zweiunddreißig Teilnehmer waren inzwischen gestorben. Kranich und Eklund mitgerechnet, elf. Immerhin mehr als ein Drittel. War das ungewöhnlich?
Der Gesichtspunkt Todesort ergab jedenfalls nichts. Alle elf Wissenschaftler waren an unterschiedlichen Orten gestorben. Ein Muster war nicht zu erkennen. Auch die Todesarten deckten das normale Spektrum ab: Herzinfarkte, Krebserkrankungen, Unfälle.
Nein. Nichts. Kein Anhaltspunkt dafür, dass die Konferenz in einem Zusammenhang mit Kranichs oder Eklunds Tod stand.
Er beschloss, eine Runde zu joggen. Der feste Sandweg am Ufer des Sees war geradezu ideal dafür. Spaziergänger waren zu dieser frühen Stunde auch noch nicht unterwegs. Nur ein Fahrradfahrer kam ihm entgegen.
Nach einer Stunde kehrte er erschöpft zum Haus zurück. Als er die Klinke herunterdrückte, fiel es ihm ein: fünf Unfälle. Elf von zweiunddreißig Teilnehmern waren gestorben. Zwei Herzinfarkte, zwei Krebstote, einer, wahrscheinlich zwei ermordet und – fünf Unfälle. Troller sah sich die Fälle genauer an.
Da war Robert Miller, ein Schweizer Kernphysiker, der berühmt geworden war wegen seiner bahnbrechenden Erkenntnisse auf dem Gebiet der Supraleitung. Von einer Raftingtour in den Wäldern Kanadas war er im August 1998 nicht zurückgekehrt. Seine Leiche hatte man nicht gefunden.
Dann war da der russische Astronom Stanislaw Bakow, der maßgeblich beteiligt war an der Entwicklung der Theorie der schwarzen Löcher. Er war bei einem Autounfall in New Mexico ums Leben gekommen. Sein Dodge war völlig ausgebrannt gewesen, man hatte ihn nur anhand seines Zahnschemas identifizieren können.
Der britische Militärhistoriker James Kagan war beim Sporttauchen nach Schiffswracks in Florida ertrunken.
Thie Nat Kun, der thailändische Buddhismusexperte, war bei einem Flugzeugabsturz über den Everglades ums Leben gekommen. Das Flugzeug war eine Privatmaschine und auf dem Weg von Miami nach New Orleans gewesen.
Und schließlich war da Robert Alt, ein österreichischer Konfliktforscher. Er war beim Zelten im Yellowstone Nationalpark vermutlich von einem Bären angefallen und getötet worden. Kojoten hatten sich über seinen Körper hergemacht und ihn fast völlig aufgefressen.
Troller spürte, wie seine Hände feucht wurden. Es gab zumindest eine Gemeinsamkeit bei den
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