Gottes Gehirn
mittelalterlicher Universalgelehrter, gezeigt hat, wie der Klang die Welt regiert.“
„Wie der Klang die Welt regiert?“, wiederholte Jane und gab damit ihrer Skepsis unverhohlen Ausdruck.
„Boethius unterschied drei Ebenen, auf denen der Gesang Gottes wirkte: Die höchste Stufe war die musica mundana, die Sphären- oder Himmelsmusik. Sie bildete sich aus den Bewegungen der Planeten zueinander. Eine Stufe darunter lag die musica humana. Darunter verstand er die Einwirkung der Sphärenmusik auf den Menschen, unsere Songlines sozusagen, die unser Denken, Fühlen und Handeln prägen. Und schließlich kam die niedrigste Stufe, die musica instrumentalis, die wir auf unseren Instrumenten spielen.“
„Und Sie glauben, Boethius hatte recht?“
„Aber ja“, rief Behrman begeistert aus. „Die musica mundana bestimmt unsere Welt. Sie ist die Melodie unseres Lebens. Sie gibt uns den Takt vor, in dem wir denken, und sie steuert das Wachstum der Pflanzen. Die Kombinationen ihrer Töne und Akkorde ergeben die Symphonie des Lebens. Resonanz ist das Prinzip, das Leben ermöglicht. „Behrman hielt kurz inne und schien dem Klang seiner eigenen Worte nachzulauschen. „Deshalb“, sagte er und betonte jedes Wort, „ist es ein Irrweg, das Genom zu entschlüsseln, um die Schöpfung zu verstehen. Und deshalb ist es falsch, was mein ehemaliger Kollege James Watson, der Mitentdecker der Doppel-Helix und ehemalige Direktor des Human Genome Project, zu einem Reporter sagte: >Einst glaubten wir, unser Schicksal stehe in den Gestirnen, heute wissen wir, dass unser Schicksal weitgehend in den Genen liegt.< Es ist falsch, es ist ein Irrtum, ja, es ist Frevel. Der Schlüssel zum Verständnis unserer Welt liegt vielmehr darin, sich der göttlichen Musik zu öffnen. Nada Brahma, die Welt ist Klang. Pythagoras hatte diesen Schlüssel gefunden. Fast zweitausend Jahre lang wurden im Abendland Tonleitern verwendet, die auf der pythagoreischen Obertonreihe gründeten. Man hat sogar herausgefunden, dass auch die Flöten, die in den Gräbern der Pharaonen lagen, die gleiche Tonfolge hervorbrachten. Nur – es gab ein Problem, das die Menschen nicht in Ruhe ließ.“
„Welches?“
„Pythagoras hatte aus der Obertonreihe einzelne Töne mit einem möglichst gleichen Tonabstand herausgegriffen, um zu einer spielbaren Tonleiter zu kommen. Wenn man nun diese Tonleiter über mehrere Oktaven spielte, kam es zu einer Dissonanz, mit der man lange Zeit nicht fertig wurde.“
„Warum?“
„Wie soll ich Ihnen das erklären?“, sagte Behrman und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Stellen Sie sich einen Klavierstimmer vor: Er wählt einen Grundton, stimmt nach dem Gehör zwölf mal in Quinten aufwärts und erhält so die sieben Oktaven des Klaviers. Wenn er es nach den Regeln des Pythagoras macht, dann wählt er einen gleichmäßigen Abstand, den man mit 702 cent bezeichnet.“
„Cent?“
„Das ist eine Maßeinheit für ein Frequenzverhältnis. Das Problem ist nun, dass der pythagoreische Klavierstimmer am Ende bei 12 mal 702 cent, also 8424 cent herauskäme.“
„Wieso ist das ein Problem?“, fragte Troller, dem mittlerweile der Kopf schwirrte.
„Das Problem besteht darin, dass der zuletzt hinzugefügte, der zwölfte Ton sich nicht präzise auf die Ausgangsnote beziehen lässt. Er hat 24 cent zuviel. Man bezeichnet dies auch als pythagoreisches Komma. Und obwohl diese Abweichung sehr klein ist, sie beträgt nur etwa einen viertel Ton, erzeugt sie doch eine Dissonanz, die den Menschen jahrhundertelang Kopfzerbrechen bereitet hat.“
„Verstehe“, sagte Jane. „Wie kann eine unperfekte Tonleiter eine göttliche Offenbarung sein?“
„Genau das war die beunruhigende Frage. Wie konnte es sein, dass in der perfekten göttlichen Schöpfung diese Unregelmäßigkeit auftrat?“
„Also handelt es sich bei Pythagoras’ Tonleiter doch nicht um eine göttliche Offenbarung, sondern um menschliches Stückwerk?“
Behrman schüttelte den Kopf. „So haben die Menschen tatsächlich gedacht, jahrhundertelang. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Abweichung war ein Wink Gottes.“
„Und was wollte er uns damit sagen?“
„Er wollte uns dazu auffordern, die Welt zu nehmen, wie sie ist. Seine grundlegende Botschaft lautet: Leben gibt es nur dort, wo es Dissonanzen, Abweichungen, Unregelmäßigkeiten gibt. Und alle Versuche, sie zu verbessern, zu reinigen, harmonischer zu gestalten, führten nicht naher zu Gott hin, sondern weiter von ihm fort. Den
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