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Gottes kleiner Finger - [Thriller]

Gottes kleiner Finger - [Thriller]

Titel: Gottes kleiner Finger - [Thriller] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Haken war so kurz, dass Jaimes Gewicht ihn nicht geradebiegen konnte. Der Hebelarm war nicht lang genug.
    Jaime seufzte erleichtert. Er würde nicht fallen, jedenfalls nicht sofort. Andererseits war auf der Minusseite natürlich zu verzeichnen, dass er keinerlei Chance hatte, aus eigener Kraft zurück nach oben zu kommen. Außerdem war der Haken am Ende des Armierungseisens so kurz, dass Jaime abrutschen konnte, wenn er nur eine einzige unüberlegte, falsche Bewegung machte.
    Es blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten und still und reglos zu bleiben. Vielleicht war Katharine noch am Leben. Wenn sie am Leben war und sich beim Aufprall gegen die Turmwand nicht schwer verletzt hatte, würde sie vielleicht wieder nach oben klettern können. Dann würde Katharine früher oder später zum Lift zurückkehren. Wenn sie vorbeiging, würde sie Jaime vielleicht sehen und ihm hinaufhelfen können. Wenn, wenn, wenn.
    Jaime wartete und versuchte, sich zu entspannen. Im Turm war es eigentlich sehr still und friedlich. Warum also nicht hier hängen, dachte er bitter, die Lohnzahlung geht weiter. Ob er es wagen konnte, Zigaretten und Feuerzeug aus der Tasche zu nehmen? Vorsichtig spähte er zu dem Seil hinauf, das an der Spitze des Armierungseisens hing, und kam zu dem Ergebnis, dass es wohl doch besser wäre, bei dem so überraschend begonnenen, erzwungenen Aufgeben des Rauchens zu bleiben.
    Dann begriff er plötzlich, dass es im Turm, genau genommen, sogar viel stiller und ruhiger war, als es hätte sein sollen.
    Jemand musste die Gehäuse der Windturbinen geschlossen haben, denn Jaime spürte keinerlei aufsteigenden Luftstrom. Der Wind hätte mit Orkanstärke blasen müssen.
    Warum sind die Gehäuse geschlossen worden?, wunderte sich Jaime.
    Aber noch ehe er sich eine Antwort auf seine eigene Frage gründlich hätte überlegen können, spürte er plötzlich, wie ein Windstoß von unten heftig, mit gewaltiger Kraft, auf ihn traf. Der Wind ließ seine Kleider flattern und seine Haare wehen.
    Jemand hat wieder die Turbinengehäuse geöffnet, dachte Jaime.
    Der Wind gewann erschreckend schnell an Stärke. Eine Sekunde später bemerkte Jaime, dass er schon nahezu gewichtslos war. Das Atmen fiel ihm schwer, und das Wasser lief ihm aus den Augen. Er hatte noch niemals einen so starken Wind erlebt, und er hatte das Gefühl, der Wind werde ihm gleich die Haare ausreißen. Hilfe, der Wind trägt mich ja schon fast, dachte Jaime, gleich hebt er mich nach oben.
    Da sah er von unten etwas, das sich näherte und schnell anwuchs.
    Jetzt habe ich Halluzinationen, dachte Jaime Oroza.

11
    Das knirschende Geräusch von oben ließ nach, und das Luftschiff hielt inne. Es sank nicht mehr weiter ab. Katharine Henshaw seufzte erleichtert. Sie tastete sich weiter ins Cockpit hinein. Obwohl sie das Fenster eingeschlagen hatte, war immer noch überall dicker schwarzer Rauch, der sich nur langsam verzog. Sie konnte nicht ordentlich sehen und wusste, dass sie bald anfangen würde zu husten, wenn sie den Rauch einatmete. Im Luftschiff konnte nicht mehr viel Sauerstoff übrig sein. War es überhaupt möglich, dass jemand darin noch am Leben war?
    Vor Katharine lag etwas, das entfernt an einen Menschen erinnerte, aber die Gestalt war voller Blut und schwer verbrannt. Dort, wo der Kopf hätte sein sollen, war nichts, überhaupt nichts. An den Kleidern des Leichnams erkannte Katharine Nersi Khan. Es tut mir leid, Nersi, so schrecklich leid, sagte Katharine in Gedanken.
    Aber es gab nichts, was sie jetzt noch für Nersi Khan hätte tun können, und so ließ sie sich weiter hinunter bis zum Cockpit. Sie stemmte die Füße gegen den Boden des Luftschiffs, der sich in der Senkrechten befand, und ließ mehr Seil durch den Karabinerhaken laufen. Hoffentlich schneidet nichts das Seil entzwei, dachte Katharine.
    Razia al-Qasreen lag auf dem Steuerungspanel. Katharine sah, dass sie mit dem Gesicht heftig dagegen geschlagen war. Es war übel zugerichtet und dick mit geronnenem Blut bedeckt. Aber Razia lebte noch, denn sie lallte etwas Unverständliches, Ersticktes, als Katharine sie berührte. Raphaela Guerrero konnte Katharine nirgends entdecken.
    »Halte durch«, sagte sie zu Razia. »Wir schaffen es hier heraus.«
    Aber würde sie es wirklich schaffen, zwei Menschen hochzuholen, ohne Jaime?
    Sie verdrängte ihre Zweifel. Bald würde sich alles klären.
    Wieder sank das Luftschiff einen Zentimeter oder zwei, und Katharine hörte von oben ein Knirschen. Wenn

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