Gottes kleiner Finger - [Thriller]
anstellen?«
Mit seiner Dame schlug er Schraders Läufer.
»Und wenn sie nun zwei oder drei der Kanister von Kahuta haben?«
Schrader zog wieder ihren Springer.
»Und wenn schon«, widersprach Lauri. »Sie würden nicht wagen, sie zu benutzen. Sie würden wissen, dass wir uns dann rächen. Als sie in New York dreitausend Menschen getötet hatten, rächten wir uns mit einem Krieg, in dem über eine Million Muslime ums Leben kamen. Was würden wir tun, wenn sie einen Atomschlag gegen uns führen?«
Lauri brachte seine Dame in Sicherheit.
»Aber wenn sie etwas täten, wofür wir keine Vergeltung üben könnten?«, fragte Schrader. »Zumindest nicht mit Kernwaffen?«
8
Die Frau in dem purpurroten Gewand ging in die Hocke und schob ihre Hand in den Sand. Ihre vergoldeten, kunstvoll verzierten Armreifen klingelten an den Handgelenken. Die Frau ballte die Hand zur Faust und hob sie in die Höhe. Der feine gelbe Sand rann ihr durch die Finger, und der noch leichtere Staub zerstob in der Luft. Hinter ihr stand eine westlich gekleidete, jüngere Frau mit schwarzem, lockigem Haar.
Staub in den Gegenwind, dachte die Frau. Nichts als Staub in den Gegenwind. Wieder einmal. Würde es auch diesmal so sein? Einen Augenblick nur, und der Wind würde alle Spuren ihrer Arbeit verweht haben, nichts würde mehr übrig sein.
Wird aus mir ein neuer Frank Shuman?, überlegte sie.
Sie dachte an all das, was sie für Gottes Kleinen Finger geopfert hatte.
In rascher Folge zog eine Reihe von Bildern an ihrem inneren Auge vorüber. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit im Iran, an ihren zoroastrischen Vater. Handle gut, denke an gute Dinge, verhalte dich gut. Alljährliche Sonnenfeste, die ihr Vater auch dann feiern wollte, als die Atmosphäre im Land mit der Revolution engherziger und intoleranter geworden war. Es waren immer fröhliche, warmherzige Familienfeiern gewesen, und sie hatten weiterhin einen wichtigen Platz unter den besten und teuersten Erinnerungen aus ihrer Kindheit. Klar und deutlich erinnerte sie sich auch an ihre alljährlichen Besuche in Ägypten bei den steinreichen Eltern ihrer Mutter.
Sie rief sich ihre Schulkameradinnen und die plötzlichen Veränderungen im Zuge der Revolution in Erinnerung, den Zwang, einen Schleier zu tragen. Wie ihre liebsten Freundinnen sich plötzlich gegen sie gewandt, sie auf der Straße umgeschubst und bespuckt hatten. Wie sie in den Armen ihrer Mutter geweint hatte, mehr wegen der Demütigung und Enttäuschung als wegen ihrer aufgeschlagenen Knie.
Sie waren nach Ägypten gezogen. Dort hatte sie ihrer Großmutter von ihren Träumen erzählt, und die Großmutter hatte die Eltern dazu bewogen, ihre Zustimmung zu geben. So hatte sie in den Vereinigten Staaten mit dem Geld ihrer Großeltern studieren können. Als sie nach Ägypten zurückkehrte, bekam sie dank der Beziehungen ihrer Großeltern sofort einen Arbeitsplatz an der Universität Kairo.
Die Frau hob den Kopf und betrachtete Gottes Kleinen Finger mit gemischten Gefühlen. Das majestätische Bauwerk bewirkte, dass sie sich selbst klein und unbedeutend fühlte. Wie ein Sandkorn im Dünenmeer der Sahara, wie eine in einem flüchtigen Moment vergehende winterliche Schneeflocke in den Bergen von Täbris. Obwohl sie in mehr als einer Hinsicht die Mutter der ganzen Anlage war. Gottes Kleiner Finger war, in seiner heutigen Form, ihre Schöpfung. Sie wusste, dass er ohne sie niemals entstanden wäre.
Sie war oft stolz darauf gewesen, aber jetzt war sie nur traurig und deprimiert.
Wir sind schon so weit gekommen, dachte sie. Wir sind schon so nahe daran. Aber alles entgleitet uns wieder wie Wüstenstaub. Wir sind nicht imstande festzuhalten, was wir erreicht haben. Es ergeht uns so wie Shuman.
Ich habe so viel geopfert, damit dies hier zustande kommt, dachte sie wieder. So viel. Fast all die Dinge, die Menschen normalerweise haben und die ihnen fast immer wichtiger sind als alles andere. Auch ich hätte all das haben können, aber ich habe beschlossen, mich nicht darum zu bemühen. Um Gottes Kleinen Fingers willen.
Verzeih, Mutter, dachte sie. Verzeih, Vater, ich habe eure Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht.
Und das alles ... vergebens? Das war schwer zu akzeptieren. Das konnte man unmöglich ertragen. Die Begegnung mit der Wahrheit war schmerzhaft.
Als sie aber die leuchtende Kugel der Sonne am Himmel glühen sah, dachte sie, dass das, was sie hier tat, in gewisser Weise vielleicht doch etwas war, das ihr Vater zu schätzen
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