Gottes kleiner Finger - [Thriller]
der Seite verfolgte. Sie blickte in Katharines Richtung und sah ihr direkt in die Augen. Die Botschaft war klar. Hilf mir, sei so lieb.
Sollte ich das tun?, dachte Katharine.
Vielleicht sollte ich es, ja. Vielleicht würde es Lauri guttun. Vielleicht würde es ihm helfen, seine Dämonen loszuwerden. Oder sie zumindest ein wenig zu verdrängen. Durch dieses Projekt würde Lauri etwas für solche Dinge tun können, die Alice besonders wichtig gewesen waren. Katharine stand auf. Sie trat vor den großen Spiegel und betrachtete sich darin. Außerdem könnte es auch dir selbst ganz guttun, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Gerade dort in der schmutzigen Gasse und in dem grauen Regen hast du noch gedacht, dass du irgendwo anders hinmöchtest. Zum Beispiel zurück nach Phoenix. Aber da du das im Grunde gar nicht willst, warum fährst du dann nicht zum Beispiel nach Ägypten, das wäre doch eine schöne Abwechslung? Außerdem ist das nicht besonders gefährlich. Wenn von den Mitarbeitern des großen Bauprojekts in einem Zeitraum von vielen Jahren nur ein einziger ums Leben gekommen ist, dann müsste ich schon ziemlich großes Pech haben, wenn mir dort etwas Schlimmes passieren sollte. Katharine fasste ihren Entschluss.
»Hör dir das jetzt bis zu Ende an«, forderte sie Lauri auf. »Vielleicht kannst du dabei etwas lernen.«
Katharine kam näher und legte Lauri die Hand auf die Schulter.
»Und wenn ich mitkäme? Warum sollten wir nicht hinfahren und uns das ansehen? Im Grunde wollte ich schon immer mal nach Ägypten!«
Lauri sah Katharine überrascht an.
Verdammter Mist, dachte er. Wie kann ich jemandem eine Absage erteilen, der mir zweimal das Leben gerettet hat?
Katharine sah, dass Lauri zu schwanken begann. Das könnte klappen, sogar leichter, als ich es mir vorgestellt hatte, dachte sie. Vielleicht versteht Lauri auch selbst, dass die afrikanische Sonne ihm guttun würde.
Doch plötzlich befiel Katharine für einen verschwindend kurzen Augenblick eine kleine, brennende Angst. Sie wusste nicht, woher die Ahnung kam, aber einen Augenblick lang war das Gefühl einer Gefahr sehr konkret, fast mit den Händen zu greifen. Einen flüchtigen Augenblick lang hatte sie das schneidende Gefühl, von irgendwo aus großer Höhe herabzustürzen. Aus sehr, sehr großer Höhe.
War dies eine Vorahnung? Sollte man solche Dinge ernst nehmen? Und wenn ich nun sterben muss, wenn ich nach Ägypten fahre?
Quatsch, dachte Katharine, ich bin nicht abergläubisch! Sie verdrängte die bösen Ahnungen.
»Na gut«, sagte Lauri.
Außerdem ist es jetzt wohl zu spät, um zu bereuen, dachte Katharine.
10
Während die Maschine in einem Bogen den Flughafen von Kairo anflog, konnten Katharine und Lauri einen Blick auf einen Landstrich der Westlichen Wüste Ägyptens und langgestreckte, rötliche Streifen erhaschen, die die Wüste etwa in Nord-Süd-Richtung durchzogen. Das mussten große Längsdünen sein. Lauri konnte nicht einschätzen, wie lang sie waren, aber er konnte ihr Ende nicht sehen. Wenn er sich recht erinnerte, waren die größten Längsdünen der Sahara bisweilen Hunderte von Kilometern lang.
Hinter ihnen schimmerte blau das Mittelmeer. Als die Maschine drehte, sahen sie das Nildelta. Lauri wusste, dass es jedes Jahr ein paar Millimeter weiter im Meer versank. Gleichzeitig neigte es sich, weil die eine Seite des Deltas schneller versank. Vor dem Bau des Assuan-Staudamms hatte das Hochwasser des Nils jedes Jahr gewaltige Mengen Sand und anderen Schlamm mitgebracht. Das hatte das Versinken verlangsamt, aber jetzt kamen die Schlammmassen nicht mehr zum Ziel, sondern versanken in den Staubecken. Das Abschmelzen des Inlandeises von Grönland und der westlichen Antarktis verschlimmerte die Lage. Das abbrechende Inlandeis erzeugte so viele Eisberge, dass der Meeresspiegel schon um acht Millimeter jährlich anstieg. Außerdem regnete auf die fruchtbare Schwarzerde der Nilufer ständig Sand herab, den der Wind in die obere Atmosphäre getragen hatte. Das minderte die Fruchtbarkeit des Bodens, und der vom Hochwasser mitgeführte Schlamm konnte den Schaden nicht mehr kompensieren. Dieses Land könnte bald schwer in der Bredouille stecken, dachte Lauri. Er wollte sich gar nicht ausmalen, in welchem Zustand sich Ägypten in hundert Jahren befinden würde, falls nicht irgendein überraschendes Moment den Trend der Entwicklung wenden sollte.
»Hier werden wir nicht frieren«, sagte Katharine, als sie aus dem Flugzeug ausstiegen.
Die Temperatur
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