Gottes kleiner Finger - [Thriller]
Sandsteinhügeln erschienen gelbe, wellenförmige Sanddünen, die sich endlos bis zum Horizont erstreckten. Mitten darin befand sich ein kreisförmiges, lichtstrahlendes Gewächshaus, so groß wie ein gläsernes Meer. Aus seiner Mitte wuchs der unfassbar hohe Turm zum Himmel hinauf. Sein Gipfelpunkt befand sich in schwindelerregender Entfernung hoch über ihnen, und sein Schaft in grauenerregender Tiefe. Neben dem Glasmeer standen einzelne Gebäude, die aber nicht wie Gebäude wirkten, denn sie waren winzig klein, und die neben ihnen geparkten Busse und Lkws erschienen kleiner als Blattläuse. Die Personenwagen waren wie Sandkörner, und der Zaun, der die Baustelle umgab, wie eine kaum erkennbare graue Linie. Sie mussten die Augen zusammenkneifen, um sie überhaupt zu erkennen.
Lauri wurde gewahr, dass Katharine sich so heftig an den Armlehnen festklammerte, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden. Schweißtropfen perlten ihr an den Schläfen.
»Darf ich vorstellen: das erste richtige Sonnenwindkraftwerk der Welt«, sagte Razia al-Qasreen stolz. »Ein Aufwindkraftwerk. A solar chimney.«
13
Als sie näher kamen, reckte sich die Turmspitze in immer schwindelerregendere Höhen hinauf. Das Bauwerk wurde breiter und das von Glas bedeckte Feld größer. Einen Augenblick später war die Turmspitze so hoch oben, dass man sie kaum sehen konnte, ohne sich dabei den Hals zu verrenken. Der Sonnenturm wirkte nicht mehr rund, sondern wie eine gewaltig große, senkrechte und ebene Wand. Das Glasmeer unter ihnen teilte sich in unzählige kleine Vierecke auf.
»Die Einwohner der Umgebung bezeichnen den Turm als Gottes Kleinen Finger«, erzählte Razia. »Sie sagen, wenn er die ganze Sahara von einer Sandwüste in eine Grasebene verwandeln kann, dann muss es Gottes Kleiner Finger sein, weil niemand sonst das zu tun vermag. Diese einzelnen Projekte und ihre Auswirkungen gehen im Kopf der Menschen leicht ein wenig durcheinander.«
Katharine hatte das Gefühl, neben dem Sonnenwindkraftwerk auf die Größe einer Ameise oder eigentlich einer Bakterie zu schrumpfen. Endlich konnte man an der Oberfläche des Turms Einzelheiten erkennen. Sie sahen, dass die Oberfläche aus rauem Beton bestand. Der Turm wurde nach oben hin nicht schmaler, sondern eigentlich ein wenig breiter. Sicherlich förderte diese Form das Aufsteigen der Luft mit möglichst hoher Geschwindigkeit.
»Das Prinzip ist sehr einfach«, erläuterte Razia. »Die Sonne erwärmt die Luft im Gewächshaus. Der Druckunterschied zwischen dem oberen Teil des Schornsteins und dem Gewächshaus wächst erheblich an. In dem Schornstein entsteht eine starke, aufsteigende Luftströmung, die Windturbinen antreibt.«
»Unvorstellbar, dass die Luft mit ausreichend hoher Geschwindigkeit nach oben strömen soll«, bemerkte Lauri.
»Das ist gar nicht so sonderbar, wie man glauben könnte«, sagte Razia. »In der Natur treten überraschend starke vertikale Luftströmungen auf, deren Geschwindigkeit einhundertsechzig Kilometer in der Stunde betragen kann. Warum sollten wir das nicht auch erreichen?«
»Wie hoch ist er?«, fragte Katharine mit etwas heiserer Stimme.
»Er soll drei Kilometer hoch werden«, sagte Janet.
Drei Kilometer?, dachte Lauri. Ist das überhaupt möglich?
Janet spürte seine Skepsis.
»Wir verwenden keine Baugerüste«, erklärte Janet. »Wir verfügen über einen neuartigen Hebekran, der wie geschaffen ist für große Höhen.«
Hinter dem Turm tauchte etwas Rundes auf, das rasch an Länge gewann.
»Ein Zeppelin?«, fragte Katharine verwundert. »Ein Luftschiff?«
Anscheinend bestand das Luftschiff aus zahlreichen einzelnen Abteilungen. Darunter gab es ein niedriges, mit mehreren Fenstern ausgestattetes Cockpit, eine Art Kommandobrücke.
»Das ist unser Hebekran«, bemerkte Keskitalo stolz. »Unsere fliegende Betonmühle. Zuerst heben wir die Metallrahmen mit dem Luftschiff an ihren Platz. Dann verbringen wir in die Mitte eine leichte Gussform und füllen sie vom Luftschiff aus mit Beton.«
»Desert Queen«, las Lauri auf der Flanke des Luftschiffs.
Janet zog den Hubschrauber nach oben. Gleichzeitig drückte sie das den Schwanzrotor regelnde Pedal so, dass der Hubschrauber sich nicht zu weit nach rechts bewegte, sondern gleichmäßig neben dem Schornstein in die Höhe stieg.
»Übrigens haben wir vor, dieselbe Methode bei der Errichtung von Windparks zu erproben«, sagte Keskitalo. »Im Meer eine Windkraftanlage zu errichten ist teuer. Die größten Anlagen
Weitere Kostenlose Bücher