Gottes Tochter
vor sich hin. »Das Licht. Das elektrische Licht. Bei uns gabs immer nur ekeliges Neonlicht, aber das Licht in Lübeck… Was mir auch gefallen hat, waren diese Begrenzungsstangen aus dem feinen Metall, die hab ich mir lang angesehen. Rico war total sauer wegen der dämlichen Stangen. Ich fand die schön. Später hatte ich Kopfweh vom Schauen.« Sie machte eine kurze Pause.
»Auf der Rückfahrt haben wir uns mit fetten Schokoküssen voll gestopft, ganz toll.«
Dann sagte sie: »Später war ich ein paar Mal in Berlin, der Ku’damm hat mich nicht umgehauen, in Kreuzberg war ich gern. Da könnt ich vielleicht leben. Ich hab Rico davon erzählt, aber er wollte hier nicht weg. Ich hab zu ihm gesagt, in der Hauptstadt kriegt er bessere Jobs als hier. Er wollt nichts davon wissen. Und jetzt geht er doch hin. Er wird hingehen, das glauben Sie auch, oder nicht?«
»Ja«, sagte Süden.
»Können Sie ihn nicht aufhalten?«
»Vielleicht. Sie sollten mit ihm sprechen.«
»Das klappt nicht«, sagte sie. »Außerdem werd ich beobachtet, Ihre zwei Kollegen vor dem Haus würden mich verfolgen. Aber Sie kennen die nicht.«
»Ich werde über den Hof gehen«, sagte Süden. »Als ich gekommen bin, haben sie mich nicht beachtet, weil es geregnet hat und gerade jemand ins Haus ging. Halberstett hat ihnen bestimmt eine Beschreibung von mir gegeben.«
»Die wüsste ich gern, die Beschreibung«, sagte Marlen leise. Dünner Regen fiel gegen die Fensterscheiben. Das bleiche Licht der Straßenlampe erreichte das Zimmer nicht mehr. Minutenlang saßen Marlen und Süden auf ihren Plätzen und taten nichts.
Dann sagte sie: »Woher haben Sie die Narbe am Hals?«
»Ein Unfall«, sagte er. »In der Kindheit.«
Sie nickte, was Süden nicht sehen konnte. »Und was bedeutet der blaue Stein, den Sie tragen?«
Süden sagte: »Ein indianischer Schamane hat ihn mir geschenkt. Als ich ein Junge war.«
»Jetzt versteh ich.«
»Was verstehen Sie?«
»Nichts«, sagte sie. »Nichts. Rufen Sie mich an, wenn Sie mit Rico gesprochen haben?«
»Ja.«
»Und wenn er schon weg ist?«
»Dann ist es seine Entscheidung«, sagte Süden.
»Oder die von Julika«, sagte Marlen und stand auf und drückte die Finger auf ihre Augen.
»Sie sind ein Liebespaar«, sagte Süden.
»Und das begreif ich eben nicht!«, sagte Marlen. »Was ist das für ein Mädchen? Was will die von meinem Sohn? Und was will er von ihr? Hat er wegen ihr Steffen… umgebracht? Er wollte nie hier weg! Nie wollte er weg! Und jetzt? Jetzt bei Nacht und Nebel und nachdem… Er hat mich angeschrien, er sagt mir nicht, was er vorhat, er will Geld von mir, er lässt mich einfach sitzen, er ist völlig verändert. Und sie? Sie verbirgt auch was vor mir. Ich muss Ihnen was sagen, ich dürfte das eigentlich nicht, aber ich muss… Ich mag diese Julika nicht, ich hab ihr geholfen, ich hab sie hier schlafen lassen, ich wollt sie nicht wegschicken… Aber ich mag sie nicht, sie ist aufdringlich und sie…«
Ratlos setzte sie sich wieder. Süden ging zu ihr.
»Am liebsten würd ich ihm dieses Mädchen verbieten«, sagte Marlen. »Ganz diktatorisch. So wie man uns früher den Westkontakt verboten hat. Genauso!«
»Ja«, sagte Süden. Sie drehte den Kopf zu ihm. »Kennen Sie dieses Gedicht:
›Wenn ihr Freunde vergesst, Wenn ihr den Künstler höhnt, Und den tieferen Geist klein und gemein versteht, Gott vergibt es…‹«
Und Süden sagte:
»›… doch stört nur Nie den Frieden der Liebenden‹.«
»Sie lesen Gedichte?«, sagte Marlen.
»Sie meinen, obwohl ich Polizist bin?« Dann schwiegen sie eine Zeit lang.
Die Entfernung bewahrte sie vor Berührungen, die sie, wie sie ahnten, später bereuen würden. Sie wären an einem Ort ohne Umgebung gewesen, in einem Nichts aus Unbeholfenheit und unbestimmter Lust, unter fremder Haut flüchtig beheimatet und unversehens vielleicht dem Kind begegnet, das sie so klug zu verbergen wussten. Und dann hätten sie sich trennen müssen, in einem Anfall von Abschied, bei dem sie sich womöglich eingeredet hätten, von der Mahlzeit ihrer Nähe wäre noch Zeit übrig und ihr Winken an der Tür ein heiter-hungriges Versprechen.
31
S chließlich entschied er sich für einen blauen Golf. Eine Stunde lang hatte er sich im wehenden Regen auf dem Gelände der Werkstatt herumgetrieben, die Straße im Blick, von Auto zu Auto huschend. Anfangs war er von seiner Gelassenheit überrascht gewesen, aber dann dachte er an Julika, die seit Stunden auf ihn wartete, und
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