Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
etwas schnulzig, mit der Orgel und den Backgroundsängerinnen, sehr harmonisch alles, aber mir gefällt es.«
    Sie hörten zu.
    »Martin hasste diese Doppel-LP«, sagte Süden. »Für ihn war das gefällige Sülze.«
    »Es gibt schon stärkere Versionen von ›Shelter from the Storm‹ oder ›Mr. Tambourine Man‹!«
    »Ja«, sagte Süden. »Aber wir werfen der Sonne auch nicht vor, dass sie Schatten verursacht.«
    »This is one of our unrecorded songs, wonder you guess which one it is«, sagte Dylan. Einige Zuhörer lachten, vielleicht waren es die Musiker, und dann spielte er »Is Your Love In Vain« von einer Platte, die kurz darauf erschienen war und die Martin für einen Abgesang hielt. Abgesang worauf?, hatte Süden ihn gefragt, und Martin hatte erwidert: Auf seine verdammte Kunst!
    »Rico kann mit dieser Musik nichts anfangen«, sagte Marlen.
    »Er hört wenig Musik. Das Musische ist nicht seine Stärke.« Sie rückte mit dem Stuhl. »Er wird seine Arbeit verlieren, was bleibt der Firma übrig? Die beschäftigen keinen Mörder. Ist sowieso bloß eine ABM-Stelle.«
    »Ich habe mit Spahn gesprochen«, sagte Süden. »Sie werden die ABM-Stellen wahrscheinlich streichen.«
    Marlen nickte. Leise sang sie den Refrain des Liedes mit.
    »Bei uns gibt es ABM-Gasthäuser«, sagte Süden.
    »Werden da Kellner ausgebildet?«
    »ABM«, sagte Süden. »Das bedeutet Auf-Bayerisch-Mach-Kneipen. Da stellen die Brauereien abgebeizte Holztische rein und Extremdialekt sprechende Leute hinter den Tresen, die Wirte schreiben die Gerichte auf Bayerisch in die Speisekarten und auf die Schiefertafeln, und sie haben nicht nur eine Schanklizenz, sondern auch eine Duzlizenz, In allen Lokalen sieht die Einrichtung gleich aus, die Messer und Gabeln und Servietten stecken in grauen Steinkrügen, die Bedienungen tragen Dirndln oder Kniebundhosen und simulieren Freundlichkeit, solange man sie nach einer halben Stunde nicht fragt, wo das Essen bleibt. Die Gäste sind laut und lustig, und die Kellner erzählen ungefragt Witze. Kommt ein Mann zum Apotheker und verlangt Gift, denn er will seine Frau umbringen, worauf der Apotheker sagt, er darf ihm kein Gift verkaufen, das ist verboten, da zieht der Mann ein Foto seiner Frau aus der Tasche und zeigt es dem Apotheker, der daraufhin sagt: Ach so, Sie haben ein Rezept!«
    Marlen schraubte die Flasche mit dem Marillenschnaps auf.
    »Darüber lachen die Leute bei Ihnen?«
    »Niemand lacht«, sagte Süden. »Deswegen gehen die ABM-Kneipen auch alle nach einem Jahr ein, dann steht das Lokal ein Jahr lang leer, und dann kommt eine neue ABM-Kneipe rein.«
    »Merkwürdiges Bayern«, sagte Marlen und trank. »Sind Sie in der Stadt geboren?«
    »In einem Dorf. Taging.«
    »Das ist bestimmt schön dort.«
    »Wenn man gern von Landschaft umzingelt ist«, sagte Süden. Draußen schwankte das Licht. Der Wind wurde stärker, sogar die Gardine bewegte sich leicht. Im Zimmer war es warm. Dylan besang die Dunkelheit.
    »Ich bin in einem thüringischen Dorf aufgewachsen«, sagte Marlen. »Meine Mutter hat unter der Enge und der Langeweile gelitten. Mein Vater war Werkzeugmacher. Später, nachdem sie in die Stadt gezogen waren, wurde er Neulehrer, und meine Mutter arbeitete in der Schokoladenfabrik. Sie fütterte mich mit Halloren.«
    Süden dachte an die alte Frau mit den Leuchtstreifen an den Schuhen.
    »Pralinen«, sagte Marlen. »Vielleicht wollte sie mich trösten, weil ich aufs Internat gehen musste. Für mich war das nicht schlimm. Ich hab das Abitur gemacht, dann sollt ich studieren. Hätt aber lieber gearbeitet. Mein Vater wollte, dass ich Lehrerin werde, das hab ich ihm ausgeredet. Ich hab Bibliothekswesen studiert, mit Fernstudium, das hat sechs Jahre gedauert. Rico war schon auf der Welt, und ich war mit Ronny verheiratet. Eine Weile wohnten wir bei meinen Eltern, weil wir keine Wohnung gefunden haben. Ronny kam von hier, und ich wollt gern hier leben, hier waren die Straßen auch mal krumm, und es war was los, nicht so uniform wie woanders.«
    Sie lächelte nur für die Dunkelheit.
    »Ronny war viel unterwegs, ich hatte unsere Dreiraumwohnung für Rico und mich allein. Morgens um sechs hab ich ihn in den Hort gebracht und abends um fünf wieder abgeholt, ich hab in der Bibliothek gearbeitet und nachts mein Fernstudium gemacht. Ich bin oft am Küchentisch eingeschlafen. Einmal im Monat hatte ich einen Tag frei, da hab ich nur geschlafen. Heut denk ich, ich hab Rico vielleicht vernachlässigt, ich studier,

Weitere Kostenlose Bücher