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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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und mein eigener Sohn lernt nicht mal richtig lesen und schreiben. Irgendwie hat er sich in der Schule durchgemogelt. Und dann kam die Wenderei.«
    Sie sah zur Couch, auf der Süden unbewegt saß, zurückgelehnt, die Arme verschränkt, sein weißes Hemd stach aus der Dunkelheit. Ein Bild aus dem Fernsehen fiel ihr ein, aus jenen Tagen kurz bevor das Haus brannte. Einer der Bewohner schwenkte ein weißes Laken, und unten auf der Wiese schrien die Leute und streckten die Arme in die Höhe und riefen Deutschland den Deutschen. In ihrer Vorstellung stürzten wieder die Zeiten ineinander, dabei hatte sie nur von ihrem unauffälligen Leben erzählt, von Ronny, der verschwand, und von ihren Freundinnen, von denen einige ebenfalls weggingen und einige starben.
    »Wir waren wie Haustiere, die in den Wald mussten«, sagte Marlen. »Auf einmal waren wir nicht mehr beschützt, auf einmal waren wir für alles allein verantwortlich, alle wussten, was sie nicht wollten, aber keiner wusste, was er wollte. Früher haben wir aufeinander aufgepasst, jetzt ging man aus der Haustür, und jemand drückte einem ein Flugblatt in die Hand oder wollte etwas verkaufen, Staubsauger, Zeitungen. Wir hatten doch nicht gelernt, etwas für uns selbst zu tun. Und wir waren neidisch auf die, die sich schneller gedreht haben als der Wind, die zweihundertfünfzigprozentige Demokraten sein wollten und das auch hingekriegt haben. Wie Herr Spahn von der Maschinenbaufirma, der hat gleich begriffen, worum es geht und wie man sich verhalten muss. Ich werf ihm nichts vor, er ist immer anständig zu Rico gewesen, er hats eben schon kapiert gehabt, da haben manche von uns sich noch gewundert, wieso sie plötzlich arbeitslos waren. Ich hab mir gesagt, jetzt musst du ein neuer Mensch werden. Ich wollt mich nicht unterkriegen lassen, das ist doch gut, dass man selber entscheiden kann, dass man ein Individuum sein darf. Dieses Wirgefühl früher wurde einem ja auch suggeriert, das war ja auch nicht dauernd echt. In einer LPG haben wir zwar alles zusammen gemacht, aber wir waren auch fremde Leute, das war eine Zwangszusammenführung. Der Bauer musste seinen Hof hergeben, die Tiere kamen in den Gemeinschaftsstall, da hat niemand drüber geredet, das musste eben so sein. Ich hab gedacht, jetzt organisier ich mein Leben selber, meins und das von Rico, ich werd jetzt erwachsen, hab ich gedacht. Früher waren wir wie Kinder, es war alles einfacher, es gab immer nur einen Strang, früher warst du als Einzelner nie schuld an was. Jetzt bist du an allem selber schuld.«
    »Waren Sie mit Rico im Westen?«, fragte Süden, der sich an die Bilder im Fernsehen erinnerte, als die Leute durch das Brandenburger Tor strömten, zu Fuß oder in ihren Trabants. In den Gesichtern der Polizisten spiegelte sich ein Staunen, das ebenso kindhaft wie verzweifelt wirkte. Gemeinsam mit Martin und Sonja hatte er die Berichte verfolgt, schweigend, von einer abstrakten Freude ergriffen, die sich bald in konkrete Begeisterung verwandelte, wenngleich er nicht hätte sagen können, worüber. Auf den Taumel der überraschten Menschen folgte die Hypnose der magischen Lügner und dann ein kurzer Schlaf, in dem die Lügner ein paar Träume willkürlich verteilten, und dann kam das Erwachen in einer Gegend, die niemand wieder erkannte. In jenen glorreichen Tagen aber, von denen Marlen sprach, saß Süden in seiner Wohnung und berauschte sich an der Vorstellung, die Wirklichkeit zu wechseln und umzuziehen. Doch er kam, wie so oft, nicht weiter als bis zur Wand neben der Tür.
    »Wir waren in Lübeck«, sagte Marlen. »Wir sind mit dem Auto hingefahren, in ein Kaufhaus gerannt, haben einen Taschenrechner gekauft und sind sofort wieder nach Hause gefahren.«
    Sie schlug mit dem kleinen Glas gegen die Flasche. Das leise Klirren ließ Süden den Kopf heben. »Und anschließend sind wir erst mal in den Wald gegangen.«
    »Warum?«, fragte Süden.
    »Weil wir im Westen waren und niemand hat uns aufgehalten! An der Grenze war keine Gefahr mehr, wir fuhren einfach drüber. Und Rico hat gesagt: Das ist aber ein schönes Land jetzt. Das hab ich mir gemerkt: Das ist aber ein schönes Land jetzt. Ein wenig traurig war er, weil er nicht mehr Pionier werden konnte, mit Halstuch und allem drum und dran. In der Woche danach sind wir noch mal rüber gefahren. Rüber! Hingefahren sind wir.«
    »Was hat Ihnen am besten gefallen?«, fragte Süden.
    »Mir?«, sagte Marlen.
    Sie öffnete weit die Augen und nickte und lächelte

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