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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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mehr, er hat Selbstmord begangen.«
    »Warum?«, fragte Marlen leise.
    »Er ging verloren«, sagte Süden und schloss die obersten zwei Knöpfe seines Hemds. »Martin legte sich in einen Müllcontainer und schoss sich in den Kopf. Und ich habe es nicht verhindert.«
    »Bestimmt konnten Sie es nicht verhindern.«
    »Dieser Gedanke ist kein Trost«, sagte er. »Es gibt Nächte, in denen verlaufe ich mich in meinem eigenen Zimmer, ich erschrecke, wenn ich in den Spiegel sehe, weil ich mich nicht wiedererkenne.«
    »Und was tun Sie dann?«
    »Ich rauche«, sagte Süden. »Ich stopfe Pilze in meine Pfeife. Außerdem trinke ich Bier. Hier ist der Beweis.« Er zeigte auf seinen Bauch.
    »Sie sitzen wahrscheinlich auch viel«, sagte sie.
    »Ich bin ein Büroner«, sagte Süden. »Aber ich versuche so oft wie möglich draußen zu sein.«
    »Wie ist eigentlich Ihre genaue Berufsbezeichnung?«
    »Hauptkommissar. Ich wollte nicht mein Leben lang eine Uniform tragen.«
    »Dann sind Sie also ein zielstrebiger Polizist«, sagte sie.
    »Ich war nie zielstrebig«, sagte er. »Vielleicht war ich wegstrebig. Ich bin den Weg immer weiter gegangen, ich habe Gewohnheiten entwickelt.«
    »Ein wegstrebiger Büroner sind Sie also«, sagte Marlen.
    »Und jetzt sind Sie so weit gereist. Wie finden Sie die Westpolen im Allgemeinen?«
    Süden strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich bin hier unter Westpolen?«
    »Es gibt Leute, die nennen uns so.«
    »Ich nicht.«
    Sie schwiegen.
    »Westpolen!«, sagte er. Dann stand er auf. »Es ist ein fremdes Land. Darf ich Ihre Toilette benutzen?«
    »Zweite Tür links«, sagte Marlen.
    Er sperrte die Toilettentür ab und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Vergeblich versuchte er, den Hahn so fest zuzudrehen, dass er nicht tropfte.
    Er musste ein paar Minuten für sich sein. Außerhalb seiner Funktion, außerhalb des Zimmers, in dem sie einander aus ihrem Leben erzählten, als hinge ihre Existenz davon ab. Während er mit nassem Gesicht vor dem Waschbecken stand, dachte er daran, was er erreicht hatte, seit er hier war. Alles hatte er erreicht. Er wusste, wo Rico sich aller Wahrscheinlichkeit nach versteckte, wohin er gehen würde und dass der junge Mann, wenn er Marlens Worte nicht falsch interpretierte, tatsächlich seinen Freund Steffen Nossek umgebracht hatte. Und Marlen hatte Recht: Er musste seine Kollegen informieren, er war der einzige Polizist, der von dem Versteck wusste. In einem schmalen Schrank lagen mehrere Handtücher zusammengefaltet übereinander. Süden zog eines heraus. Dabei fiel ein weißes Sweatshirt zu Boden. Er hob es auf, es hatte einen V-Ausschnitt und schien eher einer Frau als einem Mann zu gehören. Aber Marlen wäre es eindeutig zu eng. Er mischte sich in fremde Leben ein und schnüffelte in fremden Schränken. Er bedrängte diese Frau, die auf eine Einsamkeit zusteuerte, vor der er sie nicht bewahren konnte. Er saß auf dieser Seite des Tisches und sie auf der anderen. Er lebte in seinem Zimmer und sie in ihrem. Er kam aus einem anderen Land als sie, und auch wenn es denselben Namen trug, waren die Unterschiede zwischen ihren Alltagen und Albnächten und zwischen ihrer beider Erwachen am Morgen groß. Auf einmal dachte Süden, wie irrig es war, wenn er glaubte, er könne von einer Gegenwart in die andere wechseln und seine Schritte behielten den gleichen Klang, sein Aussehen die gleiche Bedeutung, seine Rolle die gleiche Funktion. Das Feuer, das damals das Haus zerstört und einen Menschen in den Tod getrieben hatte, war gelöscht, und die Fassaden waren farbenfroh restauriert worden. Doch noch heute glimmte jedes Wort darüber an den Rändern weiter, sogar das Schweigen. Er hatte in dem kleinen, nach Zitrone und frischer Wäsche riechenden Badezimmer ein paar Minuten still für sich sein wollen und nun hörte er den Wasserhahn tropfen und bildete sich ein, gläserne Stimmen würden auf dem Porzellan zerspringen, in immer kürzeren Abständen, eine Stimme nach der anderen, mit ohrenbetäubendem Klirren.
    Musik empfing ihn, die Liveaufnahme eines Songs, den er schon unzählige Male gehört hatte.
    »Zu laut?«, fragte Marlen, die wie vorher am Tisch saß, im Dunkeln. Durch das Fenster fiel der Abglanz des Lichts einer Straßenlampe.
    »Nein«, sagte Süden. »Ist das ein Sweatshirt von Julika?« Er hielt es hoch.
    »Ja.«
    Er legte es auf den Tisch, zögerte, ging zur Couch und setzte sich.
    »Mögen Sie Dylan?«, fragte Marlen.
    »Unbedingt.«
    »Die Version ist

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