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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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gleichgültig sein Blick blieb. Da traf sie seine Hand im Gesicht. Sie schlug mit der Schulter gegen den Kühlschrank, ließ das Messer fallen und sackte zu Boden.
    Im Flur hörte sie eine Stimme. Sie hob den Kopf. Steffen gaffte ihre Beine an. Als sie feststellte, dass ihr Rock hochgerutscht und ihr Slip zu sehen war, stand Steffen schon nicht mehr in der Tür.
    Sie zog sich hoch, tastete nach der Wand und hörte ein Geräusch. Auf Knien rutschte sie in den Flur und blickte nach rechts.
    Durch die Wohnungstür kroch Rico herein, das Gesicht von roten Schlieren entstellt, die Kleidung über und über mit Blut verschmiert. Er gab ein Krächzen von sich, das Julika mehr Angst einjagte als sein Anblick. Dann hielt er inne, wimmerte und riss den Mund auf, ohne einen Ton von sich zu geben.
    Willenlos hob er die linke Hand. Julika dachte, er wolle ihr winken. Sein rechter Arm knickte ein, und er schlug mit dem Gesicht auf den Teppich, und sein Körper schlotterte vom Kopf bis zu den nackten Füßen.
    Julika faltete die Hände und flüsterte: »Wir gehen weg hier, wir gehen weg hier, und für immer.« Sie horchte. Sie begriff nicht, dass es ihre Stimme war.

13
    A ls Tabor Süden kurz nach fünf Uhr nachmittags das ockerfarbene Bahnhofsgebäude verließ, saß Julika in einem überhitzten engen Holzhaus, den Kopf an Ricos Schulter gelehnt, und sagte wieder mit leiser Stimme:
    »Wir gehen weg hier, und für immer.«
    Und Rico sagte: »Ich bin hier zu Hause, woanders gehör ich nicht hin.«
    »Ich pass auf dich auf«, sagte Julika.
    »Woanders geh ich verloren.«
    »Ich bin doch da«, sagte sie.
    »Du musst doch wieder dahin zurück, von wo du weggelaufen bist«, sagte er.
    »Ich bin nicht weggelaufen«, sagte sie.
    Dünner Regen schlug gegen die Scheibe des kleinen Fensters. Ricos Atem rasselte, wenn er mit halb geöffnetem Mund Luft ausstieß. Seine Nase, die ihm bei jedem Atemzug wehtat, wurde von einem weißen Verband verdeckt, sein rechtes Auge war geschwollen, und er hatte ein Pflaster auf der Stirn und eines am Hinterkopf, wo seine Mutter ihm die Haare abrasiert hatte, damit der Arzt, der ihn für zwei Wochen krankschrieb, die Wunden behandeln konnte. Das Sitzen auf der schmalen Holzbank verursachte ein Stechen in seinem Rücken. Seine Unfähigkeit, Julikas Geruch auch nur ein wenig wahrzunehmen, obwohl sie sich eng an ihn schmiegte, ließ ihn beinah weinen vor Wut. Und auch, dass er sie in dieser Hütte verstecken musste.
    »Manchmal«, sagte er, und seine Stimme klang lauter, als ihm recht war, »manchmal glaub ich, du lebst gar nicht in der Wirklichkeit.«
    »Wo denn sonst?«
    »Irgendwo daneben. Wo es nur dich gibt.«
    »Und dich.«
    Nach einer Weile sagte er: »Ich glaub, ich möcht schon in der echten Wirklichkeit leben.«
    »Aber ich bin wirklich«, sagte sie.
    »Ja«, sagte er, »du bist wirklich.«
    »Ja«, sagte sie.
    Wie einen unerwarteten Trost empfand er jetzt ihr gemeinsames Schweigen. Er fing an zu rätseln, warum. Dann hörte er auf zu rätseln.

TEIL 2
 
DORT
    »Wir waren wie Haustiere, die in den Wald mussten«

14
    A ls er aus dem Taxi stieg, wurde ihm bewusst, dass er ebenso gut durch eine andere Stadt hätte fahren können. Auch hatte er nicht zugehört, was der Fahrer ihm erzählt hatte. Vage erinnerte er sich an einige Antworten.
    Für einen Augenblick schien er sogar vergessen zu haben, wozu er vor dem sechsstöckigen Gebäude aus Beton und Backstein stand. Er trat aus dem dunklen Durchgang zurück auf den Gehsteig, stellte die braune Reisetasche neben sich, steckte die Hände in die Jackentaschen und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war dunkelgrau, es nieselte, was ihm bisher nicht aufgefallen war.
    Eine Weile stand Tabor Süden im matten Schein einer Straßenlampe wie einer, der dabei war aufzubrechen und nicht wusste, wohin.
    Früher, als er manchmal verreist war, einer Frau zuliebe oder in der vergeblichen Vorstellung, anderswo könne er sich von sich selbst erholen, hatte er festgestellt, dass er zu lange brauchte, um in der neuen Umgebung gelassen zu werden und fähig zu schauen. War er dann wieder in seinem Zimmer, dauerte es Monate oder Jahre, bis seine Eindrücke – wie Fotos im chemischen Bad – zu konkreten Bildern wurden, die er einordnen und ablegen und hervorholen konnte. Zudem entwickelten sich in der Rückschau die kleinsten Begebenheiten zu Panoramen großer Empfindungen, und er war machtlos dagegen. Wie ein von Staunen überwältigtes Kind im Kino kam er sich dann

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