Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
vor, eines, das Zuschauer, Hauptfigur und Regisseur zugleich war, eines, das sich selbst vollkommen genügte. Jetzt kehrte er erleichtert in die Gegenwart zurück und wandte sich der Tür zu, hinter der er erwartet wurde und eine Aufgabe zu erfüllen hatte.
    »Hier ist ein Herr Süden, Kollege aus Bayern«, sagte der Uniformierte ins Telefon. Dann legte er auf. »Herr Halberstett holt Sie ab.«
    Süden stand im Vorraum neben dem Pförtnerkabuff. An der Tür mit den vier quadratischen Milchglasscheiben hing ein Schild: »Ab 12 Uhr öffentlicher Mittagstisch«. Auf einer schwarzen Tafel an der Wand waren die Büros der Polizeidirektion aufgelistet.
    »Kollege Süden?« Er drehte den Kopf.
    »Halberstett, Inspektion Zentrale Dienste. Wir machen alles.«
    »Grüß Gott«, sagte Süden.
    »Guten Tag«, sagte Halberstett. »Einen Kollegen aus Bayern hatten wir noch nie zu Gast. Erschrecken Sie bitte nicht! Bei uns siehts anders aus als bei Ihnen. Das meiste hier stammt noch von früher.«
    »Bei uns ist das meiste auch von früher«, sagte Süden.
    »Aber bei Ihnen sahs früher besser aus als bei uns«, sagte Henry Halberstett.
    Von der Eingangshalle mit den Stellwänden und dem verlassenen Informationstisch, auf dem ein altes Telefon stand, gingen sie durch einen Flur zum Treppenhaus.
    »Die Einrichtungen in den Büros haben wir zusammengeschustert«, sagte Halberstett auf der Treppe.
    »Nach der Wende haben wir gedacht, wir werden eine moderne Polizei. Und was sind wir geworden? Sehen Sie sich um!«
    Süden sah sich um. Schränke mit Orden und Pokalen und Ausrüstungsgegenständen der Polizei, abblätternder Verputz, Linoleumböden, schäbige Stühle, Bilder mit Symbolen der Volkspolizei. Ein grauer, unabwaschbarer Schleier überzog Wände und Türen und Möbel. Es war die trostlose Sauberkeit staatlicher Behörden, die Süden gut kannte, multipliziert mit dem offenkundigen Desinteresse des Ministeriums, auch nur einen Cent mehr in bessere Arbeitsbedingungen zu investieren.
    »Im Winter regnets hier rein«, sagte Halberstett. Im Vorbeigehen warf Süden einen Blick durch die halb offene Tür einer Toilette. Er musste an die Zustände in Gefängnissen denken, in denen er zu tun hatte, als er in der Mordkommission arbeitete.
    »Wir sind gleich da.«
    Eine Tür reihte sich an die nächste. Niemand kam ihnen entgegen, aus den Zimmern war kein Geräusch zu hören.
    »Hier, bitte«, sagte Halberstett. Er hielt Süden die Tür zu seinem Büro auf. »Die Kantine hat schon zu, ich hab uns Orangensaft im Supermarkt besorgt. Trinken Sie Saft?«
    »Unbedingt«, sagte Süden.
    Auf einem niedrigen Tisch lagen zwei Aktenordner, ein dünner mit einem grünen Deckel und einer mit einem orangefarbenen, der mindestens hundert Seiten umfasste. Zwei Gläser standen davor, halb voll mit Orangensaft, daneben die Papptüte.
    »Bitte.« Halberstett deutete auf einen der beiden Stühle.
    »Ich stehe lieber«, sagte Süden.
    »Das ist erlaubt«, sagte Halberstett und setzte sich. Im Gegensatz zur abweisenden Atmosphäre auf den Fluren fand Süden das Büro behaglich. Drei Grünpflanzen in weißen Übertöpfen, an den Wänden eine riesige Landkarte von Deutschland, Poster von Landschaften und sparsam bekleideten jungen Frauen, die an Rennwagen lehnten, bunte Kalender, auf dem Schreibtisch ein Computer und eine Unmenge an Krimskrams: grüne Spielzeugautos, die als Briefbeschwerer dienten, Glaskugeln, ein kleines Buddelschiff, Stifte und Schreibblocks in allen Farben, die Figur eines Streifenpolizisten aus Plastik, deren Arme beweglich waren, im Moment hielt sie die Hand an die Mütze und salutierte in Richtung des Gesundheitsstuhls hinter dem Schreibtisch.
    »Sie hätten sehen sollen, wie das früher hier aussah«, sagte Halberstett, der gekrümmt am kleinen Tisch saß. Er trug die gleiche Uniform wie das Männchen auf seinem Schreibtisch, das übliche polizeiliche Beige und Grün, mit drei Sternen auf den Schulterklappen. Nur die Mütze fehlte. An der Wand gegenüber hing eine Mütze der Nationalen Volksarmee, davor thronte auf einem niedrigen Aktenschrank ein altes Röhrenradio.
    »Das war früher eine Bezirksverwaltung hier, deswegen im Treppenhaus die Wappen. Als wir hier eingezogen sind, hab ich gedacht, wir werden jetzt modern. Aber das dauert. Meine Truppe ist jederzeit startklar, aber das Umfeld… Ich hab fünfzig Leute unter mir, auch eine Hundestaffel, ich bin der Zugführer, viele Kollegen kenn ich von früher, wir sind eine eingespielte

Weitere Kostenlose Bücher