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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Vries?«, fragte Süden.
    Anscheinend erschreckte Rico die Frage. Er fing wieder an zu keuchen. Auch Marlen wirkte verwirrt, sie verzog den Mund und streckte den Kopf vor, als habe sie nicht richtig gehört. Stille. Noch mehr Stille.
    Süden saß an der Schmalseite des Wohnzimmertisches, zurückgelehnt, in Gedanken an die Berichte, die er in der vergangenen Nacht gelesen hatte, an die Ereignisse, die geschehen und an denen die beiden Personen in diesem Zimmer beteiligt waren, auf unterschiedliche Weise, aber stärker, als sie zugaben. Und er fürchtete, sie würden sich, je länger er blieb, gegen ihn verschwören. Wieder fühlte er sich fremd. Er bildete sich ein, dies wären andere Menschen als die, die er kannte, sie hätten andere Instinkte, würden anderen Mechanismen folgen, die ihr Handeln und Denken bestimmten. Vielleicht sollte er später wiederkommen und die Befragung von neuem beginnen.
    Seine Frage war noch immer unbeantwortet.
    »Herr Keel«, sagte er.
    »Das ist doch eine blöde Frage!«, sagte Rico. »Sie wissen, dass ich Julika kenn, deswegen sind Sie doch hier!«
    »Hat sie Ihnen von ihren Eltern erzählt, von Problemen, die sie zu Hause hat, von ihrem Vater?«
    »Weiß ich nicht«, sagte Rico.
    »Julika hasst ihren Vater«, sagte Süden. Wieder bekam er keine Antwort.
    »Wollen Sie sich setzen?«, fragte er Marlen und stand auf.
    »Bleiben Sie sitzen!«, sagte sie laut. »Ihr Hin und Her macht mich wahnsinnig!« Sie ging in die Küche. Dort atmete sie tief ein und aus, mit offenem Mund, wie vorhin ihr Sohn. Etwas verdunkelte sich in ihr, und sie hatte keine Macht darüber, etwas, das nicht nur mit der unerwarteten Rückkehr ihres Sohnes zusammenhing, nicht nur mit dem Auftauchen des Polizisten, nicht nur mit Julika. Sondern mit dem, was sie längst überwunden zu haben glaubte. Es war, als würden in ihr Schatten auferstehen und sie zwingen, sich selbst in einen Schatten zu verwandeln, und als wäre alles Lügen, alle Sorge, alles Mitgefühl vergeblich.
    Schwerfällig platzierte sie den Stuhl in der Nähe des Tisches, wich Südens Blick aus und auch dem ihres Sohnes, der auf ein Wort von ihr wartete, was sie noch mehr bedrückte.
    »Ich habe Julika bisher nicht kennen gelernt«, sagte Süden. »Ich habe mit ihren Eltern gesprochen, mit ihren Freunden und Lehrern. Sie haben alle ein Bild von ihr, aber sie hat ein ganz anderes von sich selbst. Ich bin nicht hier, um sie zurückzuholen. Ich bin hier, weil ich mit ihr sprechen möchte, ich möchte ihr zuhören, dann verschwinde ich wieder. Wir haben die Mitteilung erhalten, Julika wohnt nicht mehr bei Ihnen. Mein Kollege Halberstett sagte mir, Sie wissen nicht, wo sie sich aufhält. Das ist natürlich nicht wahr. Sie wissen, wo Julika ist, Rico, und vielleicht wissen Sie es auch, Frau Keel.«
    Beinah hätte sie Nein gesagt. Sie hatte schon Luft geholt.
    Süden sprach weiter, als habe er nichts bemerkt. »Ich bitte Sie, für mich mit Julika zu sprechen, sagen Sie ihr, ich treffe mich mit ihr, wo immer sie möchte, ich habe nicht vor, ihr Vorwürfe zu machen oder sie zu überreden mitzukommen. Vielleicht sollte sie ihr Abitur machen, aber das geht mich nichts an. Vielleicht sollte sie bei ihren Eltern ausziehen, vorübergehend bei einer Freundin wohnen und die Schule beenden. Vielleicht. Sie muss entscheiden, es geht nur um sie. Vielleicht auch um Sie, Rico, sonst wäre sie nicht bei Ihnen. Vielleicht verbringen Sie die Zukunft gemeinsam.«
    Rico erschrak. Er konnte es nicht verbergen. Es war ein wahrhaftiger Schrecken, wie jener, der ihn beim Anblick des Kommissars in der Küche überwältigt hatte.
    »Spricht sie mit Ihnen über solche Dinge?« Rico zwang sich, den Mund zu halten.
    »Weggehen ist kein Vergehen«, sagte Süden. Nach einem langen, von Grummellauten befeuerten Anlauf sagte Rico: »Wieso sind Sie dann hier?«

19
    S ie betrachtete ihre Fingernägel, sie sahen perfekt aus. Anders als sonst hatte sie nicht nur die Nägel der beiden kleinen Finger schwarz lackiert, sondern alle, auch die Daumen. Sie hielt die Hände ins trübe Licht der Lampe über dem Tisch. Schmal waren ihre Finger, weiß, mit schwarzen Kronen. Julika blies sie sanft an.
    Durch das Fenster fiel schäbiges Licht herein. Von ihrem Platz auf der Polsterbank aus konnte sie nicht erkennen, ob es regnete. Sie hatte die grünen, muffig riechenden Vorhänge zugezogen und nur in der Mitte einen Spalt freigelassen. Dieses Motel mit den vierzehn Holzhütten, die der Hausmeister

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