Gottes Tochter
hatte noch nie jemanden geschlagen, und er selbst war auch nicht oft verprügelt worden, bisher. War er tatsächlich wegen solcher Gedanken bis hierher gelaufen? Er hätte zur S-Bahn gehen können und nach Hause. Oder ins Motel. Nein. Erst müsste er einen Plan haben. Es könnte möglich sein, dass ein Autofahrer Steffen bemerkt und ins Krankenhaus gebracht hatte. Steffen war nicht tot, er hatte ihn nicht getötet. Und Robocop war ein Zeuge, er würde aussagen, was er gesehen hatte. Nein, es war möglich, dass er nichts aussagte. Steffen hatte eine Bierflasche aus der Kneipe mitgenommen, und auf dieser Bierflasche waren die Fingerabdrücke von Steffen und seine, er war überführt, das war logisch, egal, was Robocop aussagte. Er hatte einen Mord begangen. Er wollte Steffen nicht umbringen. Oder doch? Gedankenvoll blickte Rico an der Fensterfront hinauf. In einem der Zimmer ging das Licht aus und nach wenigen Sekunden wieder an. Wie ein Signal.
Auf keinen Fall durfte er zu diesem Polizisten gehen. Der war eine Gefahr. Was musste er tun? Was hatte er getan? Was war wirklich passiert? Er konnte Steffen nicht getötet haben, das war unmöglich, er konnte nicht töten. Er hatte nur zugeschlagen, er hatte sich nur gewehrt, er hatte ihm nur gegeben, was er verdient hatte.
In dieser Sekunde vermisste Rico Julika, wie er noch nie einen Menschen vermisst hatte. Und er begriff etwas, das er erst später ganz verstand, als er wieder in ihrer Nähe war, umrankt von ihrer Haut. Da verstand er, dass er sich nicht nur nach Julika gesehnt hatte in der Bitternis der Nacht, sondern dass er auch sich, selbst wenn ihm dieser Gedanke im ersten Moment absurd vorkam, vermisst hatte, als Teil ihrer Gegenwart. Und dass er in ihrer Nähe wohnte wie in einer Herberge und bisher in einer verkehrten Umgebung gelebt hatte. Jetzt war ihm klar, er musste sein altes Zuhause verlassen, denn es gehörte nicht mehr zu ihm. Jetzt würde er aufbrechen und sein Alleinsein zurücklassen wie ein Bündel zu klein gewordener Kleider.
Nackt lagen sie nebeneinander auf dem schmalen Bett, eingehüllt in kratzige Frotteelaken, und tauschten Schmetterlingsküsse.
25
» E ntschuldigung«, sagte Dr. Sibylle Kamphaus.
»Ich hab Ihnen gerade nicht zugehört, entschuldigen Sie.«
»Das macht nichts«, sagte Tabor Süden. »Ich habe nichts gesagt.«
»Nein?« Aus einem schwarz glänzenden Etui, in dem mehrere Stifte steckten, nahm die Anwältin einen Füller heraus, schraubte ihn auf und unterstrich einen Namen auf einer Akte.
»Meine Kollegin von der Staatsanwaltschaft aus Schwerin rief letzte Woche an… oder war es vorletzte Woche? Sie will die Sache noch einmal aufrollen, es gibt wohl…« Sie warf Süden einen Blick zu. »Entschuldigen Sie, ich hatte plötzlich… einen Moment, bitte.« Sie griff zum Telefonhörer. »Maxi? Bitte bringen Sie uns noch Kaffee und Wasser, danke schön.« Sie legte auf. »Sie sind ja Polizist, vor Ihnen brauch ich nicht vorsichtig zu sein, obwohl…«
»Wovon reden Sie?«, fragte Süden. Er hatte den grünen und den orangefarbenen Ordner auf den Knien und saß aufrecht in einem schwarzen Lederstuhl, dessen Lehne zu weit nach hinten geklappt war.
»Entschuldigen Sie?«, sagte sie. Es klopfte, und die Tür ging auf.
»Sie können das Büro den ganzen Vormittag haben«, sagte Maxi, die mit einem Tablett hereinkam.
»Dr. Werneck muss dringend aufs Gericht, bis Nachmittag. Ich soll Sie schön grüßen und fragen, obs Ihnen besser geht.«
»Danke, Maxi«, sagte Sibylle Kamphaus.
Die junge Sekretärin im roten Hosenanzug stellte das Tablett mit der Kanne und den zwei kleinen Flaschen Mineralwasser auf den Schreibtisch. »Sie schenken sich selbst ein, Frau Dr. Kamphaus?«
»Ja.«
Maxi sah Süden an, und er bildete sich ein, ihr Blick biege kurz vor seinem Gesicht ab und streife an ihm vorbei. Er lächelte. Etwas zu laut schloss Maxi die Tür hinter sich. Vielleicht kam es ihm in seinem übermüdeten Zustand auch nur so vor.
»Sie heißt Maxim«, sagte die Anwältin. »Aber sie will, dass man sie Maxi nennt. Ist doch schade oder nicht?«
»Unbedingt«, sagte Süden. Die Anwältin hob die Kanne.
»Später«, sagte Süden.
Sie schenkte sich ein. »Ich will niemandem etwas unterstellen, Herr Süden, ich hab nur… die hiesige Polizei war damals in die Angelegenheit verstrickt und sie ist noch heute nicht gut darauf zu sprechen. Vor allem nicht, wenn Leute von auswärts kommen, so wie ich…«
»Und ich.«
»Und Sie, ja. Ich
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