Gottes Tochter
gestorben, du weißt ja… Das hat der Juri alles wegstecken müssen, den Tod der Mutter, dass der Vater nicht auf die Dienststelle zurück ist… Das war schon hart für so einen Jungen. Und die ganzen Beschuldigungen wegen dem brennenden Haus. Dich haben sie ja auch beschuldigt, dich und Steffen und sogar Ale, wenn ich mich nicht täusche, die doch auch, nicht? Ja, aber Juri, der hat sich nicht unterkriegen lassen, ich bewunder ihn dafür. Und jetzt? Ich weiß nicht, was da vorgefallen ist, schwer zu sagen von außen. Ist ein schlimmer Schlag für den, ich kann verstehen, dass er in dem Betrieb nicht bleiben will, er findet wieder was, da bin ich sicher. Man muss sich anpassen, machst du doch auch, du hast Tapezierer gelernt, und jetzt machst du eben Schiffsbau, das ist clever von dir, man muss zur Arbeit gehen, die Arbeit kommt nicht zu dir. Willst du noch einen Kleinen?«
»Nein«, sagte Rico.
»Grüß deine Mutter!«, sagte der Wirt.
In ihren Stiefeln und der Wildlederjacke stand sie an der Tür, die Hand auf der Eisenklinke, im Dunkeln. Durch die Milchglasscheibe sah sie verzerrt die anderen Holzhäuser. Sie hörte den Regen und die Autos, die auf der Schnellstraße vorüberrauschten. An einer der Hütten brannte Licht. Seit einer Viertelstunde bewegte sich Julika nicht von der Stelle. Davor war sie entschlossen gewesen, zum Lokal des Motels zu laufen und ein Taxi zu bestellen. Irgendwie wäre es ihr schon gelungen, nur mit dem Hausmeister zu sprechen, der sie hier versteckt hatte, und mit keinem der Gäste. Soviel sie mitbekommen hatte, war nur ein einziges Haus belegt. Allerdings spielte der Hausmeister mit Freunden aus der Stadt Karten, oder es kamen Gäste zum Essen, die dann bis spät in die Nacht sitzen blieben. Falls sein Chef erfuhr, dass er illegal und auch noch kostenlos Gäste beherbergte, würde er Ärger bekommen und, wenn er Pech hatte, entlassen werden.
»Heutzutage geht das zügig«, hatte der Hausmeister zu ihnen in jener Nacht gesagt, als sie bei ihm auftauchten und Julika draußen im Dunkeln warten musste, bis Rico die Dinge erledigt hatte. Das hatte ihr imponiert, wie selbstsicher und fürsorglich er aufgetreten war. Es waren nicht die Schmerzen in ihrem Rücken, die sie zwangen dazustehen, die eine Hand um die Klinke gekrallt, die andere zur Faust geballt. Es war nicht das Pochen in ihrem Kopf, das sie manchmal während ihrer Periode quälte. Es war nicht die Frage, die sie sich in der vergangenen Stunde wieder und wieder gestellt hatte: Würde Rico sich freuen, oder würde er sie schlagen, wenn sie im »Eisenhans« auftauchte? Sie wusste nicht, warum sie wie gelähmt die Stirn an das Glas lehnte und anfing zu weinen, erst leise, dann mit zuckenden Schultern, wobei sie Laute ausstieß, die sie unfähig war zu unterdrücken. Sie schnappte nach Luft. Jedes Mal, wenn sie den Mund öffnete, schien ihr Atem einen Brocken Stimme aus ihrer Kehle zu sprengen, und sie erschrak darüber. Sie schloss den Mund und presste die Lippen aufeinander, keine drei Sekunden lang. So stand sie in der Finsternis der überhitzten Hütte, von einem Schluckauf geschüttelt, der ihr verzweifeltes Wollen noch verstärkte und sie gleichzeitig lahmte.
»Warte!«, rief Steffen durch den Regen. »Ich hab mit dir zu reden!«
Rico war schon über die Straße gelaufen und hatte für einen Moment die Orientierung verloren, was ihn sofort befürchten ließ, seine Augen seien wieder schlechter geworden.
»Bleib stehen, Blödmann!«
Er wäre sowieso nicht weitergegangen. Vielleicht brauchte er doch bald eine Brille. Wenn Spahn herausfand, dass er Probleme mit den Augen hatte, ohne zum Arzt zu gehen, würde er ihn wegen ungebührlichen Verhaltens oder Verletzung der Dienstvorschriften fristlos kündigen. Und wenn er mit einer Brille ankäme, würde Spahn ihn vermutlich auch rausschmeißen, weil er seine Kurzsichtigkeit verschwiegen und damit die gesamte Belegschaft gefährdet hatte. Er stand auf der Liste, davon war Rico überzeugt. Noch ein einziges Zuspätkommen oder ein Fehler, aus welchem Grund auch immer, und seine Zukunft als Schiffsbauer endete, bevor sie wirklich begonnen hatte.
»Hast du Angst oder was?« Steffen kam über die Straße, und Rico sah, dass er das linke Bein nachzog. Fast hätte er ihn gefragt, was passiert war, da bellte ihm Steffens Stimme entgegen.
»Glaubst du, ich weiß nicht, wo du sie versteckt hast? Hä?« Er schwenkte eine Bierflasche.
Rico brachte kein Wort heraus. Mit einem ungewollten
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