Gottes Tochter
gebraucht. Die Zeiten, in denen andere für einen gesorgt haben, sind vorbei. Wir beide wissen das, aber viele hier im Osten haben das immer noch nicht begriffen, das dauert noch.«
»Rico hat begriffen, um was es geht«, sagte Süden.
»Haben Sie mal was gelesen von dem? Einen Brief zum Beispiel? Der blanke Wahnsinn. Aber wir brauchen hier auch keine Schriftsteller, also Orthografie, das kapiert der in diesem Leben nicht mehr. Aber er ist nicht versandet, er hat seine Stelle verloren, dann hat er sich was Neues gesucht. Das nenn ich Selbstbewusstsein, auf den ersten Blick wirkt er nicht so, das täuscht. Er hat Energie, der Rico.«
»Kennen Sie seine Freunde?«, sagte Süden. »Steffen Nossek, Juri Gottow, Rosa Mohl.«
»Lassen wir mal die Rosa beiseite«, sagte Spahn, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen sauberen Aschenbecher aus einer Reihe anderer, die in unterschiedlichsten Formen und Farben auf einem niedrigen Aktenschrank standen. Das Büro war ein Arsenal von Tassen, Gläsern, Bierdeckeln und Feuerzeugen aus allen Kontinenten, offensichtlich kam Spahn viel herum. »Rauchen Sie?«
»Nein«, sagte Süden. »Verreisen Sie viel?«
»Sooft ich kann«, sagte Spahn. »Manchmal glaub ich, ich hol das nach, was meine Eltern ein Leben lang versäumt haben. Immer nur das befreundete Ausland, die wären so gern nach Amerika, nach Spanien, in die Karibik, die waren genauso verrückte Sammler von Kleinkram wie ich, die haben sich heimlich Landkarten, Kompasse, Muscheln, Fotos, Postkarten aus dem Westen mitbringen lassen, wir hatten Verwandte in Kiel, die mussten das umständlich kaufen und dann zu uns rüberschmuggeln. Und jetzt? Sie sind gestorben kurz nach der Wende, sie hatten beide Krebs, manchmal denk ich, die wollten eigentlich, dass es so bleibt wie früher, die hätten lieber ihren Traum behalten als diese Realität, die sie geschenkt gekriegt haben von Leuten, die sie nicht mochten. Viele bei uns waren ja total überfordert von der Freiheit, die sind richtig depressiv geworden, die haben nie gelernt, für sich selber zu sorgen. Früher ist man in die Arbeit gegangen und hat sich gefreut, dass am Wochenende das richtige Leben stattfindet, da wurde gefeiert und zusammengesessen, da war was los, jeder hat da seine Rolle gehabt, da war keiner allein. Und dann? Nichts mehr mit einer für den andern, jetzt hieß es jeder gegen jeden, und zwar in der Arbeit genauso wie im Privaten, das haben viele nicht hingekriegt. Als die den Schiffsbau auf der Werft eingestellt haben, ist Ricos Vater weg, ab nach drüben. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Wissen Sies?«
»Nein«, sagte Süden.
»Seine Frau ist allein zurechtgekommen, die hat ihren Job behalten, und Rico hat Tapezierer gelernt. Was wollen Sie noch wissen?« Er drückte die Zigarette aus und sah auf die Uhr. »Wir haben heut noch Personalversammlung, ich fürchte, wir werden die ABM-Stellen nicht halten können. Noch ist nichts entschieden, schwierige Situation im Moment.«
»Wird Rico seinen Job verlieren?«
»Das kann ich nicht sagen. Ausschließen kann ich es allerdings auch nicht. Sie müssen ihm ja nichts davon sagen, wenn Sie ihn finden. Wo könnte er stecken? Gute Frage. Wenn er seinen Kumpel tatsächlich umgebracht hat, kann man verstehen, dass er weg ist. Sie sind Polizist, Sie sehen das anders, aber ich kann ihn verstehen.«
»Ich auch«, sagte Süden.
»Ehrlich?« Spahn nickte anerkennend. Er stand auf und zog das dunkelgrüne Sakko an, das er über die Lehne seines Lederstuhls gehängt hatte. »Sie haben mich gefragt, was der Rico für ein Typ ist. Ich habs Ihnen gesagt. Aber wenn einer so was anstellt, dann sieht das alles anders aus, dann fragt man sich, ob man so jemanden nicht falsch beurteilt hat. Ich hätt ihn nicht für gewalttätig eingestuft, auch nicht, wenn er betrunken ist, ehrlich nicht. Man kann sich täuschen. Was aber auf jeden Fall feststeht ist, er hat nie rumgejammert, er ist niemandem auf der Tasche gelegen, er hat nie den Mund blöd aufgemacht.«
»Waren Sie damals dabei, als das Haus gebrannt hat und die Leute gegen die Ausländer demonstriert haben?«
»Die Leute«, sagte Spahn und steckte die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug ein, während er auf der Telefonanlage einen Code eintippte, »fürchten sich gern, die glauben, nur weil jemand eine andere Sprache spricht, hat er gleich eine schlechte Gesinnung. Da würd ich als Reisender nicht weit kommen, wenn ich überall so begrüßt werden würde.
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