Gottes Tochter
ihn nicht länger angaffen. Sie wollte ihren Sohn nicht verraten. Sie wollte einem Polizisten nichts in die Hände spielen.
»Er hat es nicht genommen«, sagte ihre Stimme. »Was soll ich jetzt tun?«
»Darf ich telefonieren?«, fragte er. Endlich gelang es ihr sich wegzudrehen. Sie goss das Glas voll Schnaps, obwohl sie wusste, sie würde keinen Tropfen mehr trinken.
»Nein«, sagte sie. Dann sagte sie: »Ja.«
Er holte das Telefon aus dem Flur, stellte den Apparat auf den Tisch und setzte sich an die Schmalseite.
»Sarah«, sagte er.
»Ich möchte nicht…«
Er strich ihr über die Hand. Die Berührung war längst vorbei, als sie hinschaute. Mit der Hand, die auf der ihren, wie ihr schien, eine Sekunde oder eine Minute verweilt hatte, wählte er eine Nummer.
»Tabor Süden«, sagte er in den Hörer. »Ich möchte mit Ihrer Frau sprechen… Nein, mit ihr…. Hier ist Süden, Frau de Vries, wie gehts Ihnen?… Das ist eine gute Idee, wenn Sie zu Ihrer Schwester fahren… Hat Ihre Tochter eine Freundin mit dem Namen Sarah?« Er zog seinen kleinen karierten Spiralblock aus der Hemdtasche und den Kugelschreiber. »Sarin. Sarin Landau. Wo wohnt sie?… Nein, an Ihren Mann habe ich keine Fragen. Danke, Frau de Vries.« Er legte auf.
»Julikas Eltern?«, fragte Marlen.
»Sie sind in der Stadt«, sagte Süden. »Sarin Landau wohnt am Prenzlauer Berg in Berlin. Soll ich Ihnen die Adresse bei der Auskunft besorgen?«
»Brauchen Sie sie nicht auch?«
»Wozu?«
»Wozu!«
»Möchten Sie, dass ich Ihren Sohn finde?«
»Warum sind Sie denn hier?«
»Um mit Ihnen zu sprechen.«
»Hören Sie bitte auf mit mir zu spielen! Sie sind Polizist, Sie suchen meinen Sohn als Mörder, und weil Ihre Kollegen in der Blücherstraße genau wissen, dass sie von mir nichts rauskriegen, tauchen Sie hier auf. Aber ich fall nicht auf Sie rein. Gehen Sie bitte!«
»Glauben Sie, ich bin wegen meiner Kollegen hier? Im Auftrag von Henry Halberstett?«
»Gehen Sie.« Sie überlegte, ob sie aufstehen und so lange die Wohnungstür aufhalten sollte, bis er seine Jacke nahm und verschwand. Dann dachte sie, vielleicht bin ich auf ihn angewiesen. Sie wollte wissen, wo Rico steckte. Sarin Landau, Berlin, Prenzlauer Berg. Möglicherweise war dieser Polizist der einzige Mensch, der ihr Rico zurückbringen konnte, den Polizisten in der Blücherstraße traute sie es jedenfalls nicht zu. Allerdings war es denkbar, dass Rico sich noch in der Stadt aufhielt und vielleicht noch einmal kam, um das Geld zu holen. Sie stand auf, ging in den Flur und öffnete die Wohnungstür. Süden blieb sitzen. Marlen hielt die Tür auf. Sie hatte keine Hausschuhe an, nur Socken. Vom Treppenhaus zog kalte Luft in die Wohnung.
Süden saß am Tisch, die Hände über Kreuz, als wären sie gefesselt. Nach einer Weile beugte er sich vor, damit er in den Flur sehen konnte.
»Ich bin hier!«, rief er.
Marlen machte die Tür zu, schlug mit der Faust dagegen und lief ins Wohnzimmer. »Ich geh jetzt runter und sag Ihren Kollegen, sie sollen Sie abholen!«
»Was reden Sie denn da?«, sagte er.
»Sie haben kein Recht mich so zu behandeln! Ich trau Ihnen nicht! Sie spielen ein Spiel, ein Polizeispiel, aber ich spiel nicht mit! Ich hab Ihnen schon viel zu viel erzählt! Von mir werden Sie nie erfahren, wo Rico ist, und wenn Sie mich einsperren!«
»Sie sind doch schon eingesperrt«, sagte Süden. Einen Moment lang war Marlen sprachlos vor Empörung. »Wo haben Sie das gelernt, Leute so zu behandeln? Lernen Sie das bei Ihrer Ausbildung im Westen? Sie sind hinterhältig und gemein und…«
Sie redete gegen seine Schulter, gegen den blauen Stein an seiner Halskette, gegen die Narbe an seinem Hals, gegen seine Haut, die langen Haare, sie roch das Rasierwasser und sog den Duft ein.
Plötzlich war sie in einer Umarmung. Und wie selbstverständlich legte sie ihre Arme auf seinen Rücken, und ihr linker Arm zeigte nach oben und der rechte nach unten. Sie hatte es ohne Absicht getan. Und verkrampft harrte sie aus, verwirrt und zugleich auf eine Art erleichtert, die sie hilflos machte. Dann ließ er sie los. Und sie setzte sich hin.
»Sie brauchen mir nichts zu erklären«, sagte Süden. »Aber das Schweigen wird Ihnen nicht helfen, Sie werden anfangen, sich mit Ihrem Schweigen zu martern, und Sie werden sich dafür hassen. Und am Ende hassen Sie vielleicht Ihren Sohn, weil er Sie in seine Pläne nicht eingeweiht hat, weil er Sie allein gelassen hat, weil er fortgegangen ist, ohne zu
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