Gottes Tochter
sagen, wohin, weil er plötzlich mit einem anderen Menschen zusammenlebt, nicht mehr mit Ihnen. Ich weiß nicht, warum Rico sich Ihnen nicht anvertraut hat, ich glaube aber, Sie wissen es.«
Sehr vorsichtig gelang es ihr zu sprechen. Mit jedem Wort kehrte etwas Ruhe in ihr ein. Es war, als lerne sie, je dunkler es wurde, besser zu sehen, und die Gegenwart des Mannes, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, war eine Orientierung. »Ich muss nicht lügen«, sagte sie. »Er bewahrt mich vor dem Lügen, alles, was er mir anvertraut hat, war der Name dieser Freundin, und der war falsch…
Sarin… Berlin… Jetzt geht er also nach Berlin… Rosa wollte mit ihm weg, er hat Schluss gemacht mit ihr, deswegen… Ich weiß nicht, ob es deswegen war… Sie trafen sich nicht mehr…«
»Wo haben sie sich getroffen?«, fragte Süden.
»In einem Motel«, sagte Marlen. »Nicht weit von hier…
›Troika‹… Juris Vater arbeitet dort… Er hat Rico und Rosa dort. übernachten lassen, ich hab eine Rechnung gefunden. Ich hab Rico nie gesagt, dass ich weiß, wo sie die Nacht verbringen. Das geht mich nichts an. Wahrscheinlich ist er jetzt auch dort, wo sollte er sonst hin?« Sie machte eine kurze Pause. »Jetzt können Sie hinfahren und ihn verhaften.«
»Ich verhafte ihn nicht«, sagte Süden.
»Warum nicht? Sie sind dazu verpflichtet. Oder wollen Sie mich nur schonen?«
»Wenn ich Sie schonen wollte, wäre ich nicht hier«, sagte Süden.
»Das stimmt«, sagte sie und schwieg lange. »Möchten Sie nichts trinken?«
»Nein.«
»Sind Sie auf Diät?«
»Sehe ich so aus?«
Sie musterte ihn. »Sie sind ein wenig dick, wenn ich das sagen darf.«
»Ich bin nicht dick«, sagte Süden. »Ich habe nur einen deutlich anwesenden Körper.«
»Also möchten Sie was trinken?«
»Nein«, sagte er.
»Ich auch nicht. Wenns mir schlecht geht und ich trinke drei Gläser Schnaps, dann gehts mir dreimal so schlecht, wenns mir gut geht und ich trinke drei Gläser Schnaps, gehts mir dreimal so gut. Beides ist Unsinn. Außerdem hab ich heut schon getrunken. Mein Exmann hat keinen Tropfen angerührt, der war Sportler, Fechter, er hat eisern trainiert, er war Jugendmeister und dann in der Nationalmannschaft, viel Ehre und noch mehr Urkunden. Er war sauer, dass ich mich nicht für seinen Sport begeistern konnte, dafür hat er in seinem ganzen Leben keinen Roman gelesen, Lesen war für ihn Zeitverschwendung. Aber er war nett und fürsorglich, er hat uns Geschenke mitgebracht, aus dem befreundeten Ausland, er war ein guter Kumpel. Nach der Wende ist er in den Westen, Zukunft schürfen. Ich weiß aber nicht, ob er heut ein goldenes Leben führt. Wir haben keinen Kontakt. Rico hat ihn nicht vermisst, am Anfang, ja, dann bald nicht mehr. Wir sind allein gut durchgekommen. Ich kipp Ihnen hier mein Leben vor die Füße, Ihnen, einem Polizisten. Was machen Sie damit? Die Leute kippen Ihnen oft ihr Leben vor die Füße, stimmts?«
»Stimmt«, sagte Süden.
»Und? Was machen Sie mit den vielen Leben? Schreiben Sie Berichte darüber? Legen Sie Akten an?«
»Manchmal.«
»Manchmal«, sagte sie. »Und die stellen Sie dann in den Schrank, die Akten, die Leben, die stehen dann da und vergilben. Sind Sie gern Polizist? Lassen Sie mich raten: Manchmal.«
»Ja«, sagte Süden.
»War das Ihr Wunsch, Polizist zu werden? So wie andere Kapitän oder Feuerwehrmann werden wollen?«
»Ich hatte keine Wünsche«, sagte Süden. »Ich ging aufs Gymnasium und fragte mich die ganze Zeit, was ich nach dem Abitur machen sollte, ich hatte keine Idee.«
»Was haben Ihre Eltern dazu gesagt?«
»Meine Mutter ist tot, und mein Vater verschwand, als ich sechzehn war.«
»Was heißt das: Ihr Vater verschwand? Wohin?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Süden. »Eines Sonntags hat er einen Brief geschrieben und ist weg. Mein Onkel und meine Tante kümmerten sich um mich. Ich weiß nicht, wo er hin ist, niemand weiß es. Er ist nie wieder aufgetaucht.«
»Sie arbeiten also auf der Vermisstenstelle und können Ihren eigenen Vater nicht finden«, sagte Marlen.
»Das ist so etwas wie das Leitmotiv meines Lebens«, sagte Süden.
»Das ist schrecklich.«
»Es ist ein Leben wie jedes andere.«
»Vermissen Sie ihn?«
»Nein.«
Sie schwiegen. Die Fensterscheiben waren beschlagen. Im Wohnzimmer breitete sich eine Dunkelheit aus, die die Möbel mächtig erscheinen ließ und die Wände wie Felsen.
»Mein bester Freund brachte mich zur Polizei«, sagte Süden.
»Er lebt nicht
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