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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Halbwüchsiger! dachte Wilbur Larch, aber laut sagte er zu Homer Wells: »Vielleicht willst du dir das mit dem Arztwerden doch noch einmal überlegen.«
    »Eigentlich habe ich es mir noch gar nie überlegt«, sagte Homer. »Ich habe nie gesagt, daß ich Arzt werden möchte.«
    Larch schaute nach dem Blut auf dem Mull – die richtige Menge Blut, dachte er –, und als er die Hand nach einer frischen Binde ausstreckte, hielt Homer sie schon bereit. »Du möchtest nicht Arzt werden, Homer?« fragte Dr. Larch.
    »Richtig«, sagte Homer Wells. »Ich glaube nicht.«
    »Du hattest nicht viel Gelegenheit, dir andere Dinge anzusehen«, sagte Larch mit Bedacht und wehen Herzens. »Es ist meine Schuld, ich weiß, ich habe die Medizin so unattraktiv gemacht.«
    Schwester Angela, die viel härter war als Schwester Edna, meinte gleich weinen zu müssen.
    »Nichts ist Ihre Schuld«, sagte Homer rasch.
    Wilbur Larch kontrollierte abermals die Blutung. »Viel mehr ist hier nicht zu tun«, sagte er unvermittelt. »Falls du nichts dagegen hast, könntest du vielleicht einfach bei ihr bleiben, bis sie aus dem Äther kommt – du hast ihr aber auch eine Ladung verpaßt«, fügte er nach einem Blick unter die Augenlider der Frau hinzu. »Dann übernehme ich die Frau aus Damariscotta, sobald sie bereit ist. Mir war nicht bewußt, daß dir die ganze Sache nicht gefällt«, sagte Larch.
    »Das ist nicht wahr«, sagte Homer. »Ich kann die Frau aus Damariscotta entbinden. Ich wäre glücklich, wenn ich sie entbinden dürfte.« Aber Wilbur Larch hatte sich von der Patientin abgewandt und verließ den Operationssaal.
    Schwester Angela warf Homer einen raschen Blick zu; es war ein ziemlich neutraler Blick, gewiß nicht vernichtend oder auch nur leise mißbilligend, aber er war auch nicht mitfühlend (oder gar wohlwollend, dachte Homer Wells). Sie ging hinter Dr. Larch her und ließ Homer bei der Patientin stehen, die sich langsam aus der Äthernarkose herauskämpfte.
    Homer sah nach der Fleckenbildung auf der Binde; er spürte die Hand der Frau über sein Handgelenk streichen, als sie benommen sagte: »Ich warte hier, während du das Auto holst, Schatz.«
    Im Duschraum der Knaben, wo es mehrere Toilettenkabinen gab, spritzte sich Wilbur Larch kaltes Wasser ins Gesicht und suchte im Spiegel nach Tränenspuren; genau wie Melony war er kein altgedienter Spiegelbeschauer, und Dr. Larch war überrascht von seinem Aussehen. Wie lange schon bin ich so alt?, fragte er sich. Hinter ihm im Spiegel erkannte er das Häufchen durchnäßter Kleider auf dem Boden als Curly Day gehörend. »Curly?« fragte er; er hatte geglaubt, er wäre allein, aber in einer der Toilettenkabinen weinte auch Curly Day.
    »Ich habe einen sehr schlimmen Tag«, verkündete Curly.
    »Laß uns darüber sprechen«, schlug Dr. Larch vor, was Curly aus der Kabine lockte. Er war in mehr oder minder frische Kleider gehüllt, aber Larch erkannte, daß es nicht Curlys Kleider waren. Es waren zum Teil Homers alte Kleider, die Homer inzwischen zu klein, Curly Day aber immer noch viel zu groß waren.
    »Ich versuche, nett auszusehen für das nette Ehepaar«, erklärte Curly Day. »Ich will, daß sie mich nehmen.«
    »Dich nehmen, Curly?« fragte Dr. Larch. »Welches nette Ehepaar?«
    »Sie wissen doch«, sagte Curly, der glaubte, daß Dr. Larch alles wußte. »Die schöne Frau? Das weiße Auto?«
    Das arme Kind hat Visionen, dachte Wilbur Larch, der Curly in die Arme schloß und ihn auf den Rand des Waschbeckens setzte, wo er den Jungen genauer beobachten konnte.
    »Oder sind sie hier, um jemand anders zu adoptieren?« fragte Curly traurig. »Ich glaube, die Frau mag Copperfield – aber der kann doch nicht mal sprechen!«
    »Niemand wird heute jemand adoptieren, Curly«, sagte Dr. Larch. »Ich habe keine Verabredungen heute.«
    »Vielleicht sind sie nur gekommen, um uns anzuschauen«, gab Curly zu bedenken. »Sie nehmen einfach den besten von uns.«
    »So funktioniert es nicht, Curly«, sagte Dr. Larch beunruhigt. Glaubt das Kind etwa, ich führe ein Tierheim?, fragte sich Larch. Glaubt er, ich lasse die Leute kommen und sich mal umsehen?
    »Ich weiß von nichts, wie es funktioniert«, sagte Curly und fing wieder an zu weinen.
    Wilbur Larch, mit seiner frischen Erinnerung, wie alt er sich selbst im Spiegel gefunden hatte, dachte einen Moment, daß die Arbeit über seine Kräfte ging; er spürte, wie er strauchelte, wie er sich wünschte, jemand würde ihn adoptieren – ihn einfach

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