Gottes Werk und Teufels Beitrag
niemandem etwas zuleide, außer sich selbst«, sagte Irene Titcomb abwägend. »Was macht es schon, wenn sie zuviel trinken und vom Dach purzeln? Hier ist noch niemand nicht zu Tode gekommen.«
»Noch nicht«, sagte Grace Lynchs gepreßte dünne Stimme, und ihre Worte hallten seltsam, weil sie aus dem Innern des 1000-Gallonen-Bottichs sprach. Dieses seltsame Hallen zusammen mit der Seltenheit, mit der sie überhaupt etwas zu ihren Unterhaltungen beisteuerte, ließ sie alle verstummen. Jedermann arbeitete stumm drauflos, als Wally mit Louise Tobey in dem grünen Lieferwagen vorgefahren kam; er setzte Louise mit ihrem eigenen Eimer und ihrem Pinsel ab und fragte die anderen, ob sie etwas brauchten – mehr Pinsel, mehr Farbe?
»Gib mir nur einen Kuß, Schätzchen«, sagte Florence Hyde.
»Nimm uns mit ins Kino«, sagte Big Dot Taft.
»Mach mir nur einen Antrag, einen Antrag!« schrie Irene Titcomb. Alle lachten, als Wally wegfuhr. Es war beinah Mittag, und alle wußten, daß Drück-mich-Louise besonders spät zur Arbeit gekommen war. Normalerweise stellte sie sich mehr oder minder pünktlich mit Herb Fowler ein.
Louise wirkte an diesem Morgen besonders verdrießlich, und eine Weile sprach niemand mit ihr.
»Na, du kannst ja deine Periode haben, oder was immer, und trotzdem guten Morgen sagen«, sagte Big Dot Taft nach einer Weile.
»Guten Morgen«, sagte Louise Tobey.
»Etepetete!« sagte Irene Titcomb. Debra Pettigrew stieß Homer in die Seite; als er sie anschaute, zwinkerte sie. Sonst geschah nichts, bis Herb Fowler vorfuhr und sich erbot, alle zum Mittagessen zum Kiosk an der Drinkwater Road zu fahren.
Homer spähte zum Bottich hinüber, aber Grace Lynch ließ sich nicht blicken; sie machte einfach weiter mit ihren kratzenden und schabenden Geräuschen im Innern des Bottichs. Sie hätte die Einladung ohnehin ausgeschlagen. Homer dachte, er sollte sie wahrscheinlich annehmen, um von Grace Lynch loszukommen, aber er hatte sich vorgenommen, das Dach des Ciderhauses zu untersuchen – er wollte die Stelle finden, die so geheimnisvoll im Mondlicht zu ihm herübergeschimmert hatte und jetzt, da er von den Spielregeln im Ciderhaus erfahren hatte, und daß man den Ozean – und das Riesenrad in Cape Kenneth! – vom Dach aus sehen konnte, wollte er da hinaufsteigen. Sogar im Regen.
Er ging mit den anderen hinaus, um Grace Lynch glauben zu machen, er wäre mit ihnen gefahren, und dann sagte er Herb Fowler draußen auf der Einfahrt, er wolle doch bleiben. Er spürte, wie sich ein Finger in die Tasche seiner Bluejeans verhakte, und als Herb und die anderen gefahren waren, schaute er nach und fand den Gummi. Das Präservativ in seiner Tasche trieb ihn eilig hinauf aufs Dach des Ciderhauses.
Sein Auftauchen dort überraschte die Möwen, deren plötzliche und heisere Flucht ihn überraschte; er hatte sie nicht bemerkt, wie sie zusammengekauert im Windschatten hockten. Das Dach war schlüpfrig im Regen; er mußte die Wellblechrillen mit beiden Händen fassen und seine Füße ganz eng zusammenstellen beim Klettern. Die Neigung des Daches war nicht allzu steil, sonst hätte er es gar nicht erklettern können. Zu seiner Überraschung fand er etliche Planken – alte Vierkantlatten – an der seewärtigen Seite des Dachfirstes festgenagelt. Bänke! dachte er. Sogar bei diesem Neigungswinkel saß man auf ihnen bequemer als auf dem Blech. Er hockte dort im Regen und malte sich den Ausblick aus, doch bei dem stürmischen Wetter sah er nicht weiter als bis zu den äußersten Obstgärten; der Ozean war völlig verhangen, und es blieb seiner Phantasie überlassen, wo in klaren Nächten das Riesenrad und die Lichter des Lunaparks in Cape Kenneth sein mochten.
Er war inzwischen patschnaß und wollte eben wieder hinunterklettern, als er das Messer sah. Es war ein großes Springmesser, dessen Klinge in die Vierkantlatte am Dachgiebel neben ihm gerammt war; der Griff war aus falschem Horn und an zwei Stellen gesprungen, und als Homer die Klinge aus dem Holz zu ziehen versuchte, brach der Griff in seinen Händen entzwei. Dies offenbar war der Grund, warum es hier zurückgelassen worden war. Mit zerbrochenem Griff ließ sich das Messer nicht richtig schließen; auf diese Weise war es nicht sicher zu tragen – und außerdem war die Klinge verrostet. Das ganze Dach war verrostet, bemerkte Homer; keine einzige Stelle war blank genug, um das Mondlicht zu Wallys Fenster hinüber zu spiegeln. Dann sah er die Glasscherben; ein paar
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