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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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größere Stücke hatten sich in den Wellblechrillen verfangen. Eines dieser Glasstücke hatte wahrscheinlich das Mondlicht eingefangen, dachte Homer. Bierflaschenglas und Rumflaschenglas. Whiskeyflaschenglas und Ginflaschenglas, vermutete er. Er versuchte sich die schwarzen Männer vorzustellen, die nachts auf dem Dach tranken; aber der Regen hatte ihn durchnäßt, und der Wind ließ ihn vor Kälte zittern. Während er sich das Dach hinuntertastete, zur Kante, wo man am gefahrlosesten auf den Boden springen konnte, schnitt er sich in die Hand – nur ein kleiner Schnitt – an einem Stück Glas, das er übersehen hatte. Bis er wieder ins Ciderhaus hineinging, blutete der Schnitt ausgiebig – ziemlich viel Blut für den kleinen Schnitt, dachte er, und er fragte sich, ob noch ein Glassplitter in der Wunde sei. Grace Lynch mußte ihn gehört haben, als er die Wunde am Küchenausguß auswusch (wenn sie ihn nicht schon vorher auf dem Dach gehört hatte). Zu Homers Überraschung steckte Grace immer noch in dem 1000-Gallonen-Bottich.
    »Hilf mir«, rief sie ihm zu. »Ich kann nicht raus.«
    Das war eine Lüge; sie versuchte nur, ihn zum Rand des Tanks zu locken. Aber Waisen sind von Natur aus leichtgläubig; das Waisenleben ist schlicht; dagegen ist jede Lüge hochkompliziert. Homer Wells ging, wenn auch mit Hangen und Bangen, stetig auf den Rand des Ciderbottichs zu. Die Flinkheit ihrer mageren Hände und die drahtige Kraft, mit der diese nach seinen Handgelenken griffen, überraschten ihn. Beinah hätte er das Gleichgewicht verloren, als er in den Tank gezerrt wurde und auf sie drauf. Grace Lynch hatte sich ganz ausgezogen, doch ihre extreme Kantigkeit und Knochigkeit schockierte Homer mehr als ihre Nacktheit. Sie sah aus wie ein ausgehungertes Tier, das in einer mehr oder minder menschlichen Hülle gefangen war; menschlich wohl, nur daß an ihren blauen Flecken deutlich wurde, daß ihr Zwingherr sie regelmäßig und hart schlug. Die blauen Flecken an ihren Hüften und Schenkeln waren die größten; die Fingerdruck-Flecken an ihren Oberarmen waren von tiefstem Lilaton, und auf einer ihrer kleinen Brüste gab es einen gelblichgrünen Fleck, der besonders schlimm entzündet aussah.
    »Laß mich los«, sagte Homer Wells.
    »Ich weiß, was dort gemacht wird, woher du kommst«, schrie Grace Lynch und zerrte an seinen Handgelenken.
    »Richtig«, sagte Homer Wells. Er begann systematisch ihre Finger abzuschälen, doch sie kletterte hurtig an der Wand des Bottichs hinauf und biß ihn scharf in den Handrücken. Er hätte sie jetzt zurückstoßen und dabei verletzen können, wäre nicht in diesem Moment Wally im grünen Lieferwagen mit platschenden Reifen vorgefahren. Grace Lynch ließ Homer los und zog sich hastig an. Wally saß bei strömendem Regen im Lieferwagen und drückte auf die Hupe; Homer rannte hinaus, um nachzusehen, was er wollte.
    »Steig ein!« rief Wally. »Wir müssen meinen blöden Vater retten – er ist irgendwie in Schwierigkeiten geraten, bei den Sanborns.«
    Homer Wells, der in einer Welt ohne Väter aufgewachsen war, konnte es nicht fassen, daß jemand, der einen Vater hatte, diesen als blöde bezeichnete, selbst wenn es stimmte. Auf dem Beifahrersitz des Lieferwagens lag ein Viertel-Bushel-Sack Gravensteiner; Homer hielt die Äpfel auf seinem Schoß, während Wally die Drinkwater Road entlang zu Sanborns Gemischtwarenladen rollte. Die Besitzer, Mildred und Bert Sanborn, gehörten zu Seniors ältesten Freunden; er war mit beiden zur Schule gegangen und hatte einst für Milly geschwärmt (bevor er Olive getroffen hatte und bevor Milly Bert heiratete).
    Titus’ Eisenwarenhandlung und Klempnerei war gleich neben Sanborn; Warren Titus, der Klempner, stand auf der Treppe des Gemischtwarenladens und versperrte den Eingang, als Wally und Homer nach Heart’s Rock hereingerollt kamen.
    »Gut, daß du kommst, Wally«, sagte Warren, als die Jungen die Treppen hinaufgerannt kamen. »Deinem Daddy ist eine wilde Laus über die Leber gelaufen.«
    Im Innern des Ladens sahen Homer und Wally, daß Mildred und Bert Sanborn Senior in eine Nische zwischen den Regalen gedrängt hatten, die für Backzutaten reserviert waren; Senior hatte offenbar den Fußboden und größtenteils auch sich selbst mit allem Mehl und allem Zucker in seiner Reichweite bestreut. Er sah aus wie ein gefangenes Tier und erinnerte Homer an Grace Lynch.
    »Hast du Schwierigkeiten, Pop?« fragte Wally seinen Vater. Mildred Sanborn stieß bei Wallys

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