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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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außerdem hatte er die höchst sonderbare Gewohnheit, die ganze Zeit an seinen Kleidern zu zupfen. »Es ist, als glaubte er, er habe Schmutz oder Haare oder Wollfusseln an seiner Kleidung«, schrieb Homer Wells. »Aber da ist nichts.«
    Olive Worthington versicherte Homer, daß der Hausarzt, ein alter Kauz, älter als Dr. Larch, ganz sicher sei, daß Seniors Schwierigkeiten ausschließlich alkoholbedingt wären.
    »Doc Perkins ist zu alt, um immer noch zu praktizieren, Mom«, sagte Wally.
    »Doc Perkins hat dich auf die Welt geholt – ich glaube, er weiß, was er tut«, sagte Olive.
    »Ich möchte wetten, ich war leicht auf die Welt zu holen«, sagte Wally fröhlich.
    Darauf möcht ich auch wetten, malte Homer sich aus, der fand, daß Wally alles auf der Welt wie selbstverständlich nahm – nicht auf selbstsüchtige oder verwöhnte Weise, sondern wie ein Prinz von Maine, wie ein König Neuenglands; Wally war einfach dazu geboren, die Führung zu übernehmen.
    Dr. Larchs Brief an Homer war so eindrucksvoll, daß Homer ihn sogleich Mrs. Worthington zeigte.
    »Was Du mir geschildert hast, Homer, deutet auf eine Art progressiven Gehirnsyndroms«, schrieb Dr. Larch.
    »Bei einem Mann dieses Alters stehen nicht viele Diagnosen zur Auswahl. Ich würde sagen, wir tippen am besten auf die Alzheimersche präsenile Demenz; sie ist ziemlich selten; ich habe sie nachgeschlagen – in einem meiner gebundenen Jahrgänge des New England Journal of Medicine.
    Das Abzupfen imaginärer Fusseln von der Kleidung bezeichnen die Neurologen als Karphologie. Im Verlauf des bei der Alzheimerschen Krankheit üblichen Verfalls wiederholt der Patient oft wie ein Echo, was zu ihm gesagt wird. Dies bezeichnet man als Echolalie. Die Unfähigkeit, selbst vertraute Gegenstände zu benennen, wie etwa eine Zigarette, ist bedingt durch eine Unfähigkeit, die Gegenstände zu erkennen. Dies bezeichnet man als Anomie. Und der Verlust der Fähigkeit, eingeübte oder erlernte Bewegungen auszuführen, wie etwa das Öffnen des Handschuhfachs, ist ebenfalls typisch. Man bezeichnet es als Apraxie.
    Du solltest Mrs. Worthington überreden, daß sie ihren Mann von einem Neurologen untersuchen läßt. Ich weiß, es gibt wenigstens einen in Maine. Es ist nur eine Vermutung von mir, daß es Alzheimers Krankheit ist.«
    »Alzheimers Krankheit?« fragte Olive Worthington.
    »Ist es eine Krankheit – was ihm fehlt?« fragte Wally Homer.
    Unterwegs zu dem Neurologen weinte Wally im Wagen. »Es tut mir leid, Pop«, sagte er. Aber Senior schien erfreut.
    Als der Neurologe Dr. Larchs Diagnose bestätigte, geriet Senior Worthington außer sich.
    »Ich habe eine Krankheit!« schrie er stolz – sogar glücklich. Es war beinah, als ob jemand verkündete, daß er geheilt sei; was er hatte, war völlig unheilbar. »Ich habe eine Krankheit!« Er wurde euphorisch dabei.
    Welch eine Erleichterung mußte es für ihn gewesen sein, zu hören, daß er nicht einfach ein Trunkenbold war. Solch eine gewaltige Erleichterung war es für Olive, daß sie an Wallys Schulter weinte; sie umarmte und küßte Homer mit solcher Inbrunst, wie Homer sie nicht mehr erfahren hatte, seit er den Armen Schwester Angelas und Schwester Ednas entflohen war. Mrs. Worthington dankte Homer immer wieder. Für Olive (auch wenn sie Senior schon seit langem nicht mehr liebte, falls sie ihn jemals wirklich geliebt hatte), bedeutete es sehr viel, zu wissen, daß diese neue Information es ihr erlaubte, ihren Respekt vor Senior aufzufrischen. Sie war Homer und Dr. Larch unendlich dankbar für die Wiederherstellung von Seniors Selbstachtung – und für die teilweise Wiederherstellung ihrer Achtung vor Senior.
    All dies trug zu der ungewöhnlichen Atmosphäre bei, die gegen Ende des Sommers, kurz vor der Ernte, Seniors Tod umgab; das Gefühl der Erleichterung war weitaus beherrschender als das Gefühl der Trauer. Daß Senior Worthington dem Tode zusteuerte, war schon seit einiger Zeit klar gewesen; daß er es im Handumdrehen geschafft hatte, in einigen Ehren zu sterben – »… an einer soliden Krankheit!« sagte Bert Sanborn – war eine willkommene Überraschung.
    Natürlich hatten die Einwohner von Heart’s Rock und Heart’s Haven gewisse Schwierigkeiten mit dem Terminus – Alzheimer war damals, 194–, kein geläufiger Name an der Küste von Maine. Die Arbeiter auf Ocean View hatten besondere Schwierigkeiten damit; Ray Kendall machte es eines Tages für jedermann leichter verständlich. »Senior hatte die

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