Gottes Werk und Teufels Beitrag
besonders abgewetztes Muschelstück in die Hand gedrückt; es hatte keine Kanten.
»Viel Erfahrung«, hatte Homer gesagt.
Und danach hatte Wally gesagt: »Und das ist ein weltlicher Stein«, und einen alten, glatten vorgezeigt.
Homer glaubte, daß sein Verlangen nach Candy alles verändert habe, sogar den Naturvorgang des Glattschleifens von Muscheln und Steinen. Wenn er und Wally noch einmal an den Strand gingen, würden sie dann wieder so spazierenlaufen, oder war es unvermeidlich, daß die Liebe zu einer Frau sogar ihre alltäglichsten gemeinsamen Erfahrungen verändern konnte? War er nur fünf Minuten lang sein Freund gewesen? fragte sich Homer Wells – und sein Rivale für den Rest seines Lebens?
Homer betraute Schwester Angela mit der Fürsorge für den Obstgarten am Hügel. Er erklärte, daß die Maschendrahtmanschetten rund um die Bäume nicht so straff gewickelt werden dürften, daß sie das Wachstum der Bäume beeinträchtigten – aber auch nicht so locker, daß Mäuse die Bäume ringeln konnten. Er zeigte ihr, wie man die Gänge der Fichtenmäuse entdecken konnte, die die Wurzeln fraßen.
Alle küßten Candy zum Abschied, sogar Wilbur Larch – der, als er den Arm ausstreckte, um Homers Hand zu schütteln, verlegen dreinschaute, weil Homer seine Hand beiseite schob und ihn umarmte und ihn auf seinen ledrigen Hals küßte. Schwester Edna schluchzte ganz ungehemmt. Und kaum war der Lieferwagen an der Mädchenabteilung vorbeigerollt, schloß Wilbur Larch sich in der Apotheke ein.
Es war ein Sonntag, und darum war Raymond Kendall mit seinem selbstgebastelten Torpedo beschäftigt, als Homer Candy nach Hause brachte. Candy sagte zu Homer, daß sie nicht vor dem nächsten Morgen bereit wäre, Olive unter die Augen zu treten, doch wurde sie von unvorhergesehener Panik erfaßt, als Homer mit Angel davonfuhr. Obwohl ihre Milch versiegt war, wußte sie, daß sie immer noch nach der Uhr ihres Babys aufwachen würde – auch wenn nur Homer das Geschrei tatsächlich hören würde. Und wie viele Nächte war es her, seit sie allein geschlafen hatte?
Am nächsten Tag sollte sie zu Homer sagen: »Wir müssen eine Möglichkeit finden, ihn uns zu teilen. Ich meine, noch bevor wir es Olive sagen – von Wally ganz zu schweigen –, müssen wir beide uns um ihn kümmern, wir müssen beide mit ihm zusammensein. Ich vermisse ihn einfach zu sehr.«
»Ich vermisse dich«, sagte Homer Wells zu ihr.
Er war eine Waise, die weniger als einen Monat ihres Lebens eine Familie gehabt hatte, und er war nicht darauf vorbereitet, abermals keine Familie zu haben.
Als er und Angel auf Ocean View eintrafen, begrüßte Olive Homer wie eine Mutter; sie schlang ihre Arme um ihn und küßte ihn und weinte. »Zeig mir das Baby – oh, er ist ein Schatz!« weinte sie. »Was ist überhaupt in dich gefahren? Du bist so jung, und du bist ganz allein.«
»Na, das Baby war ebenfalls ganz allein«, murmelte Homer. »Und Candy wird mir helfen.«
»Natürlich«, sagte Olive. »Ich werde dir ebenfalls helfen.« Sie trug Angel in Wallys Zimmer, wo Homer zu seiner Überraschung eine Wiege vorfand – und mehr Babysachen, als man bei einer gründlichen Durchsuchung sowohl der Knaben- als auch der Mädchenabteilung von St. Cloud’s hätte auftreiben können.
Eine ganze Batterie von Milchfläschchen erwartete Homer in der Küche. Olive hatte sogar einen besonderen Topf zum Sterilisieren der Schnuller gekauft. Im Wäscheschrank gab es mehr Windeln als Kopfkissen und Bettlaken und Handtücher.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Homer das Gefühl, er sei adoptiert worden. Zu seinem Schrecken sah er, daß Olive ihn liebte.
»Ich glaube, daß du und Angel Wallys Zimmer haben solltet«, sagte Olive; sie hatte offenbar emsig Pläne geschmiedet. »Wally wird keine Treppen steigen können, darum lasse ich das Speisezimmer zu einem Schlafzimmer umbauen – wir können immer in der Küche essen, und das Speisezimmer hat ja die Terrasse, wenn gutes Wetter ist. Ich lasse eine Rampe von der Terrasse zum Patio rund um den Swimmingpool bauen, für den Rollstuhl.«
Als Homer sie umfangen hielt, während sie weinte, beschlich ihn ein neues Schuldgefühl wie der Anbruch der Nacht, wie diese stets alte, stets neue Reue, die zu fürchten Mr. Rochester Jane Eyre gelehrt hatte, dieses »Gift des Lebens«.
In der zweiten Maiwoche arbeiteten Ira Titcomb und Homer nebeneinander, sie setzten die Bienen in den Obstgärten aus. Es war zu Anfang der Blütezeit, am
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